Krieg und Frieden
machen. Du wirst wenigstens andere Gesichter sehen, und bei uns ist es dir langweilig.«
»Ich habe gar kein Verlangen danach, Mama.«
»Ich verstehe dich wirklich nicht! Bald beklagst du dich über Langeweile, bald willst du niemand sehen.«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich mich langweile.«
»Wie? Du hast doch selbst gesagt, du wollest sie nicht sehen! Sie hat dir doch früher gefallen, was sind das jetzt für Launen? Du verschweigst mir alles!«
»Durchaus nicht, Mama.«
»Als ob ich dich gebeten hätte, etwas Unangenehmes zu tun! Ich bitte dich ja nur, einen Besuch zu machen, das verlangt ja die Höflichkeit. Ich habe dich darum gebeten, aber jetzt werde ich mich nicht mehr einmischen, wenn du Geheimnisse vor deiner Mutter hast.«
»Gut, ich werde gehen, wenn Sie es wollen.«
»Mir ist es gleichgültig, ich wünsche es nur deinetwegen.«
Nikolai seufzte, biß sich auf den Schnurrbart und legte Karten, um die Aufmerksamkeit seiner Mutter abzulenken. Am folgenden, am dritten und vierten Tage wiederholte sich dasselbe Gespräch.
Nach ihrem Besuch bei der Gräfin und dem unerwartet kalten Empfang von seiten Nikolais gestand sich Marie, daß sie recht gehabt hatte, als sie Rostow nicht besuchen wollte.
»Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte sie zu sich selbst und rief ihren Stolz zu Hilfe. »Ich habe nichts mit ihm zu schaffen und wollte nur die alte Gräfin sehen, die immer gut gegen mich war.«
Aber mit diesem Gedanken konnte sie sich nicht beruhigen, ein Gefühl wie Reue quälte sie, wenn sie an diesen Besuch dachte. Obgleich sie fest entschlossen war, ihren Besuch nicht zu wiederholen und das alles zu vergessen, fühlte sie sich beständig in einer unklaren, unbehaglichen Stimmung. Sie wußte, daß sein kalter höflicher Ton nicht aus seiner Gesinnung gegen sie entsprang, sondern etwas verbarg. Dieses Etwas mußte sie aufklären, eher konnte sie nicht ruhig sein, das fühlte sie.
An einem Wintermorgen saß sie im Zimmer ihres Neffen bei seinen Arbeiten, als man ihr die Ankunft Rostows meldete. Mit dem festen Entschluß, ihr Geheimnis nicht zu verraten und ihre Verwirrung nicht merken zu lassen, bat sie Mademoiselle Bourienne, sie zu begleiten, und ging mit ihr in den Salon.
Beim ersten Blick sah sie, daß Nikolai nur gekommen war, um eine Pflicht der Höflichkeit zu erfüllen, und war sogleich fest entschlossen, denselben Ton zu beobachten, in dem er sie anreden werde.
Sie sprachen von der Gesundheit der Gräfin, von gemeinschaftlichen Bekannten und den letzten kriegerischen Neuigkeiten, und als die von dem Anstand verlangten zehn Minuten vorüber waren, nach denen es dem Gast erlaubt ist, aufzustehen, erhob sich Nikolai, um sich zu verabschieden.
Die Fürstin hatte mit Hilfe von Mademoiselle Bourienne das Gespräch sehr gut unterhalten, aber im letzten Augenblick, als er sich schon erhob, war sie es müde geworden, von Dingen zu sprechen, die sie nichts angingen, und der Gedanke, daß ihr allein so wenig Freude im Leben beschieden sei, drückte sie so sehr, daß sie in einem Anfall von Zerstreutheit, mit starren Augen vor sich hinblickend, nicht bemerkte, daß er sich schon erhoben hatte.
Nikolai stellte sich, als ob er ihre Zerstreutheit nicht bemerke, sagte einige Worte zu der Französin und blickte wieder nach der Fürstin. Sie saß noch ebenso unbeweglich, mit kummervoller Miene da. Plötzlich empfand er Mitleid mit ihr. Er hatte eine unklare Vorstellung davon, daß er vielleicht die Veranlassung ihrer Betrübnis sei und wollte ihr helfen, ihr etwas Angenehmes sagen, konnte aber nichts erdenken.
»Leben Sie wohl, Fürstin!« sagte er.
Sie fuhr zusammen und seufzte schwer.
»Ach, entschuldigen Sie«, sagte sie, »Sie wollen schon gehen, Graf? Nun, leben Sie wohl! Aber das Kissen für die Gräfin!«
»Warten Sie, ich werde es sogleich bringen!« sagte Fräulein Bourienne und verließ das Zimmer. Beide schwiegen und blickten einander zuweilen an.
»Ja, Fürstin«, sagte endlich Nikolai mit trübem Lächeln, »es ist, als wäre es vor kurzem gewesen, aber wieviel Wasser ist seit der Zeit ins Meer geflossen, seit wir uns zum ersten Male in Bogutscharowo gesehen haben! Wie unglücklich schienen wir alle, und doch würde ich viel darum geben, um diese Zeit zurückzurufen.«
Die Fürstin sah ihm durchdringend in die Augen mit ihrem leuchtenden Blick. Sie schien sich Mühe zu geben, um den geheimen Sinn seiner Worte zu begreifen.
»Ja, ja«, sagte sie, »aber Sie haben keine Ursache, die
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