Krieg – Wozu er gut ist
zweite Welle mongolischer Invasionen befehligte, wobei er Delhi, Damaskus und Dutzende von anderen Städten plünderte, dürfte er nicht weit unter diesen Zahlen gelegen haben. (Hätte ihn beim Marsch auf China 1405 nicht das Fieber hinweggerafft, er hätte sie womöglich noch überschritten.)
So bestürzend diese Metzeleien sich ausnehmen, wir sollten nicht vergessen, dass das Maß an Mord, Vergewaltigung, Plünderung und Hunger, für das die Heere Eurasiens verantwortlich zeichneten, nur ein Teil der Gewalttätigkeit dieser Epoche war. Es war beileibe nicht etwa so, dass während alledem das Grundrauschen alltäglichen Tötens in Gestalt von Mord, Blutrache, Privatkriegen oder inneren Unruhen verstummt wäre. Wenn ein Königreich in die Feudalanarchie zurückfiel, wurde das hin und wieder zumCrescendo und legte sich wieder, wenn vorübergehend der produktive Krieg seinen Zauber zu wirken begann.
Zum ersten Mal in der Geschichte haben wir, wenn auch nicht ganz und gar zuverlässige, Statistiken einer bestimmten Art des Blutvergießens in Form von Gerichtsprotokollen westeuropäischer Mordprozesse. Diese gehen zurück bis ins 13. Jahrhundert, und auch wenn sie schwer zu interpretieren, lückenhaft und – angesichts der Anreize zum Lügen bei so hohen Einsätzen – voller Verzerrungen sind, so sind sie fast nicht weniger erschreckend als die Geschichten um Dschingis Khan. Zwischen 1200 und 1400 wurde in England, dem heutigen Benelux, Deutschland und Italien in etwa eine Person von hundert ermordet. England war dabei noch am sichersten; hier lag das Verhältnis bei eins zu 140; das raueste Pflaster war Italien, wo eine Person von sechzig durch Mord umkam. (Zum Vergleich: Die Mordrate Westeuropas im 20. Jahrhundert lag bei eins zu 2388.)
Westeuropa war nur ein kleiner Teil von Eurasiens Glücklichen Breiten; Mord war nur eine Form von tödlicher Gewalt; und die Jahre zwischen 1200 und 1400 waren nur ein Teil des hier relevanten Zeitraums. All das bedeutet, dass das Herausgreifen einer einzelnen Zahl für die Rate gewaltsamen Todes in Eurasiens Glücklichen Breiten ihre Risiken birgt. Wir haben keine Möglichkeit, die relativen Beiträge von Mord, Blutrache, Privatkrieg, inneren Unruhen und zwischenstaatlichem Krieg zu gewichten, aber wenn wir mal, um des Arguments willen, alle fünf Formen gleich behandeln, so bekommen wir für Europa eine Gesamtrate von fünf Prozent (wobei England bei 3,5 Prozent liegt und Italien bei 8,5).
Gleichviel, ob diese Zahl in etwa den Tatsachen entsprechen mag oder auch nicht (ganz persönlich halte ich sie eher für zu niedrig) und ob sie auf den Rest von Eurasien übertragbar sein mag oder auch nicht, so vermittelt sie uns immerhin ein Gespür für die Größenordnung. Sie steht außerdem im Einklang mit dem aus qualitativen Aussagen gewonnen Eindruck, dass der 1 200 Jahre lange Zyklus von produktiven und kontraproduktiven Kriegen zwischen 200 und 1400 n. Chr. viele bereits im Altertum gemachte Verbesserungen wieder zunichte gemacht hat.
Erfolgreiche Imperien wie etwa das China der Tang drückten die Tötungsrate in den Bereich von zwei bis fünf Prozent, den ich in Kapitel 2 für die alten Reiche zu schätzen wagte, während Nomadeninvasionen und Feudalanarchie sie wieder nach oben trieben – wenn auch vielleicht nicht in den Bereich zwischen zehn und zwanzig Prozent der Steinzeitgesellschaften.Falls dem tatsächlich so ist, könnten wir daraus den Schluss ziehen, dass die Rate gewaltsamer Todesfälle in Eurasiens Glücklichen Breiten zwischen 200 und 1400 in den Bereich von fünf bis zehn Prozent sank (mit anderen Worten: höher war als in den Reichen des Altertums, aber niedriger als bei prähistorischen Gesellschaften).
Was das für die Menschen bedeutete, die damit lebten, ist anhand der Manuskripte aus dem Mittelalter schwer zu sagen. Mein eigenes Gespür dafür ist, wie ich gestehen muss, von einem ganz anderen literarischen Genre – der Detektivgeschichte – geprägt. Unter dem Pseudonym Ellis Peters veröffentlichte Edith Pargeter ab 1977 zwanzig Romane und einen Band mit Kurzgeschichten über einen Detektiv spielenden mittelalterlichen Mönch namens Bruder Cadfael (der in einer großartigen TV-Serie von Derek Jacobi dargestellt wird). Cadfael lebt ein stilles Leben; er kümmert sich um den Kräutergarten eines Benediktinerklosters bei Shrewsbury in den englischen Midlands. Obwohl die Romanserie nur acht Jahre (1137–45) umfasst, hat Cadfael mit 33 Morden zu tun,
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