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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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Rechtstagung nach Tschechien eingeladen. Beim abendlichen kollegialen Beisammensein sprach ihn eine Anwältin aus Prag auf seinen Namen an: Bilak – das sei doch ein tschechischer Name, oder? Er bestätigte. [51] Woher denn seine Eltern stammten? Als er sagte, seine Mutter sei nahe bei Aussig in Böhmen geboren, erschrak die Kollegin. Ob er denn wisse, was in Aussig nach Kriegsende vorgefallen sei? Nein? Da seien Deutsche in großer Zahl erschossen, erschlagen und in die Elbe geworfen worden.
    Noch in der Nacht im Hotel fand er im Internet die Bestätigung: In der Tschechoslowakei war es vor allem in Prag, aber auch im Sudetenland nach Kriegsende zu massenhaften Racheakten von Militär, Revolutionsgarden und Zivilisten gekommen. Die Erbitterung über die deutschen Besatzer und ihre Greueltaten wirkten nach – vor allem die Ausrottung aller Bewohner des Dorfes Lidice im Jahr 1942. Die Sudetendeutschen galten pauschal als Verräter am tschechoslowakischen Staat und als NS-Anhänger. Entsprechend pauschal waren die Strafaktionen. Historiker sprechen im Zusammenhang mit Aussig von einem Pogrom. Am 30. Juli 1945 war es in der örtlichen Munitionssammelstelle zu einer Explosion gekommen. Es hieß: Die Deutschen sind schuld! Ein Großteil der Gewalttaten war von ortsfremden Tschechen verübt worden, die bereits in der Nacht vor der Explosion in Gruppen angereist waren. Dem Massaker von Aussig an der Elbe – tschechisch: Ústí nad Labem – sind nach deutscher Einschätzung zwischen 1000 und 2700, nach tschechischen Angaben zwischen 40 und 100 Menschen zum Opfer gefallen.
    Als Robert seine Mutter darauf ansprach, sagte sie erneut: »Ich wollte es dir eigentlich immer schon erzählen …« Und zu einem späteren Zeitpunkt berichtete sie: »Die Elbe war rot vor Blut.«
    Noch heute erstaunt es Robert Bilak, dass seine Mutter es fertig brachte, ihre Erlebnisse im Detail zu schildern. Er hatte ihr erklärt, er würde gern einige Leute aus seinem Freundeskreis einladen, die ein Interesse daran hätten, von ihr einen Zeitzeugenbericht zu hören. Zu seiner eigenen Überraschung willigte sie ein. Vermutlich, meint er, habe der Mutter ihre Rolle [52] als Zeitzeugin Halt gegeben – vielleicht sei es auch genau der richtige Zeitpunkt in ihrem Leben gewesen, der es ihr erlaubte, endlich in Worte zu fassen, wofür sie früher keine Sprache gefunden hatte.
    Seine Mutter, so stellte sich heraus, hatte noch mehr ertragen als den Anblick von Leichen in der Elbe. Zunächst beschrieb sie die Zeit vor der Flucht, als das ganze Dorf bereit war, in den Westen zu gehen, aber nicht durfte. Die Deutschen wurden nicht von den Tschechen, sondern von Deutschen daran gehindert, die noch immer an den Endsieg glaubten oder sich nicht trauten, einem Befehl von oben zuwiderzuhandeln. Nach Kriegsende wiederum wurde die Familie von Bilaks Mutter dann von den Tschechen festgehalten. Die Erwachsenen mussten wie Sklaven arbeiten. Es gab nur ein Zimmer für sieben Personen. So erging es ihnen über ein halbes Jahr lang. Eines Tages kam der Befehl: Alle deutschen Männer in einer Reihe aufstellen! Noch einmal ging es um eine Racheaktion. Die Familien mussten dabei zuschauen. Jeder zehnte Mann wurde erschossen. Bilaks Großvater hatte Glück. Er überlebte die Selektion.
    Bilak nahm seine Entdeckung, die mit einer Reise nach Tschechien begonnen hatte, zum Anlass, initiativ zu werden und ein Seminar für »die Kinder der Kriegskinder« anzustoßen. Er brauchte einen Kreis von gleichartig Betroffenen, er brauchte den Austausch von Erfahrungen. Was dann geschah, bestätigte Bilak voll und ganz: Die Familiengeschichten, die er in der Gruppe hörte, waren ihm teilweise so vertraut, als handele es sich um seine eigenen. Die Übereinstimmungen bei den Elternporträts waren verblüffend. Jemand aus der Gruppe beschrieb seinen Vater und Bilak dachte: Das kann doch nicht sein – der erzählt von meinem Vater!
    Zusammengekommen waren Menschen im Alter zwischen 40 und 50, die meisten von ihnen kinderlos. Nach und nach fingen sie an zu begreifen und ihrer Wahrnehmung zu trauen: [53] Nein, sie hatten nicht gesponnen, wenn sie vermuteten, dass der Schlüssel für ihre verstörten Eltern aus einer Zeit stammte, als sie, die Kinder, noch gar nicht geboren waren. Nein, sie hatten sich nicht auf dem Holzweg befunden, wenn sie nachforschen wollten, ob hier nicht auch der Schüssel für ihre persönlichen Ungereimtheiten und tiefen Verunsicherungen zu suchen sei. Was sie

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