Kriegsenkel
wurde es für Robert Bilak, als er während der Familienaufstellung erfuhr, welche Gefühle und Assoziationen bei den Mitspielern in der Generation seiner Großeltern aufgetaucht waren. Den Stellvertretern wird eine große Aussagekraft zugetraut. Geschätzt wird ihre Einfühlung in die Rolle, ihre Intuition während des Prozesses. Häufig kommt es vor, dass sie emotional wahrnehmen, was die dargestellten Personen real erlebt haben. Bilak berichtet: »Da wurde von einer Teilnehmerin gesagt, es gäbe ein schlimmes Kriegserlebnis in meiner Familie – bei meiner Großmutter mütterlicherseits.«
Vom Seminar heimgekehrt verlor er keine Zeit, die Mutter darauf anzusprechen, und ihr erster Satz war: »Ich wollte es dir eigentlich immer schon erzählen, ich wusste nur nicht, wie …« Auf diesem Weg erfuhr der Sohn von einer über 60 Jahre [49] zurückliegenden Familienkatastrophe. Seine Großmutter und deren Mutter waren von Rotarmisten vergewaltigt worden. Damals war Roberts Mutter 13 Jahre alt. Sie sagte, sie sei verschont geblieben, weil die Vergewaltiger ihr Versteck übersahen.
Der Sohn war tief geschockt. Er fragte sich, warum er nicht eher von dem Kriegstrauma in seiner Familie erfahren hatte. Nicht einmal im Verwandtenkreis war je ein Wort darüber gefallen. Warum hatte er seine Eltern nie wirklich zu ihrer Kriegskindheit befragt? Erst als er sich näher über die Nachwirkungen von Traumata in Familien informierte, verstand er: Kinder sind vor allem an einer stabilen Seelenlage ihrer Eltern interessiert; deshalb vermeiden sie unbewusst belastende Fragen und Themen.
Nachdem seine Erschütterung weitgehend abgeklungen war, tauchte ein völlig anderes Gefühl auf – Erleichterung. »Meine Erkenntnis war: Die Männer der Familie hatten die Frauen nicht schützen können, nicht retten können. Also konnte meine Mutter Männern nicht mehr trauen. Vor dem Hintergrund dieser Vergewaltigung wäre kein Mann gut genug für sie gewesen. Kein Mann – auch ich als Sohn nicht – hätte sie retten können, weil sie mit diesem Trauma belastet war.« Für ihn selbst, für seine Entwicklung, fügt er hinzu, wäre es gut gewesen, er hätte schon sehr viel eher davon erfahren. Denn: »Wenn ich das mit 20 gewusst hätte, dann hätte ich das Unglück meiner Mutter nicht auf mich bezogen, und meine Liebesbeziehungen wären weniger problematisch gewesen.«
Dann spricht er von einer langen Phase der verunsicherten männlichen Identität, als er glaubte, als langhaariger Softi-Typ mit Latzhose bei den Frauen punkten zu können. Bilak ist nicht jemand, der Beziehungsstress im Detail ausbreitet. Doch selbst seine sparsamen Äußerungen machen deutlich, wie schwer er und seine jeweilige Partnerin sich taten. Seit er von dem Leid der Mutter, der Großmutter und der Urgroßmutter weiß, scheint es für ihn auch kein Zufall mehr zu sein, dass er [50] sich gleich in zwei Liebesbeziehungen an Frauen band, die, wie sich dann herausstellte, in jüngeren Jahren vergewaltigt worden waren. In beiden Fällen wurde der Motor seines alten Familien-Beziehungsmusters angeworfen: Wieder sollte er eine Frau retten, wieder sollte er eine Frau von ihrem Schicksal erlösen.
Nach seiner Entdeckung suchte Robert Bilak im Freundes- und Bekanntenkreis das Gespräch über die möglichen Auswirkungen verschwiegener Kriegstraumata in deutschen Familien. Die meisten Angesprochenen interessierten sich nicht dafür. Sie legten auch ihm nahe, »die alten Geschichten« ruhen zu lassen. Aber es war ihm nicht mehr möglich. Hatte er sich früher mit der unheilvollen deutschen Vergangenheit befasst, dann vor allem mit dem Holocaust, mit dem Vernichtungskrieg im Osten und mit den Nürnberger Rassengesetzen. Nun aber nahm er auch das Leid der Deutschen selbst wahr. 60 Jahre nach Kriegsende schien auch gesellschaftlich die Zeit reif dafür zu sein. Erstmals interessierten sich die Medien für eine Bevölkerungsgruppe, die immer im Schatten der deutschen Schuld gestanden hatte: die ehemaligen deutschen Kriegskinder. Das öffentliche Interesse am Schicksal ihrer Generation löste unter den Betroffenen einen wahren Erinnerungsboom aus. Es war wie ein Dammbruch. Zu einem früheren Zeitpunkt waren sie nicht in der Lage gewesen, sich ihrer Kindheit zu stellen, oder sie hatten es sich nicht erlaubt, weil sie sich nicht dazu berechtigt sahen.
Das Massaker von Aussig an der Elbe
Doch die Geschichte von Robert Bilak hat eine Fortsetzung. Im Jahr 2005 wurde er als Referent zu einer
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