Kriminalgeschichte des Christentums Band 05 - Das 9 und 10 Jahrhundert
Stammland und das gesamte Ostreich, die Francia orientalis, manchmal auch noch mit ihrem früheren Namen Austria, Austrasien (deutsch »Ostarrichi« im »Heliand«) genannt (IV 117). Er bekam also zu Bayern die Gebiete östlich von Rhein und Aare, die der Sachsen, Thüringer, Ostfranken, Alemannen (ohne Elsässer) sowie Speyer, Worms und Mainz links des Rheins; womit sich, über das ostfränkische Reich, die »deutsche Geschichte« sozusagen verselbständigt, von den beiden anderen Teilreichen abzweigt.
Karl der Kahle erbte das westliche Frankenreich, die Francia occidentalis, die von nördlich der Loire bis zu Maas und Schelde reichte, dazu Aquitanien und die spanische Mark, was die Voraussetzung schuf für das Entstehen des französischen Volkes, wenn auch seinerzeit Sprache, Volkstums-, Stammesgrenzen keinesfalls den Ausschlag gaben, die Grenzziehung vielmehr reichlich willkürlich geschah, ohne Rücksicht sogar auf zusammengehörige Volksgruppen oder Bistumsverbände. Auch hatte Karl, eher unkriegerisch, persönlich jedenfalls feig, viele der ihm zuerkannten Länder mehr oder weniger gegen sich: Aquitanien, die Bretagne, Septimanien, die spanische Mark.
Das geschichtlich wirkungslos bleibende, geographisch und bevölkerungspolitisch unorganische, zwischen die beiden anderen regna gezwängte Mittelstück, das Regnum der Francia Media, wurde sowohl von Romanen (Burgundern, Provençalen) wie Germanen (Alemannen, Rheinfranken, Friesen) bewohnt. Es war ein langgestreckter Länderstreifen, der immerhin von Italien bis Friesland reichte, also das Mittelmeergebiet von Benevent über die wichtigen Westalpenpässe, über die Provence, Burgund nebst der mittleren Francia, das spätere Lotharingien, den Maas-, Mosel-, Niederrheinraum mit dem Nord-Ostseebereich verband. Dieses Gebiet hatte Lothar I. gewählt, der mit den Kaiserstädten Rom und Aachen zugleich den Kaisertitel behielt. Doch partizipierten auch die beiden anderen Königreiche an den fränkischen Kernlandschaften: Ludwig der Deutsche bekam das fränkisch besiedelte Rhein-Main-Gebiet, Karl der Kahle das fränkische Neustrien zwischen Seine und Schelde.
Pippin II. aber, der Sohn Pippins I., des inzwischen verstorbenen Sohnes Ludwig des Frommen, der den Thron von Aquitanien beanspruchte und lang Karl dem Kahlen widerstand, der seinerseits das Land »durch zahlreiche Einfälle heimsuchte« (Annales Fuldenses), wurde 864 gefangengenommen und in ein Kloster gesteckt (S. 138 f.).
Lotharingien, das Mittelreich, währte nicht lang (855–900). Es wurde nach dem Tod Lothars I. (855) unter seine drei Söhne, Ludwig II., Lothar II. und Karl geteilt. Dieser starb früh, und nach dem Ableben auch von Lothar II. (869) rissen seine Onkel, Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche, das Mittelreich im Vertrag von Meersen (870), unter Übergehung der Ansprüche Ludwigs II., an sich. Als aber der ostfränkische Karolinger Arnulf von Kärnten 895 Lotharingien wiederherstellte und dort seinen Sohn Zwentibold als König einsetzte, fand dieser anno 900 im Kampf mit der örtlichen Aristokratie den Tod und das eigenständige lotharingische Königtum sein Ende (S. 318 f.).
So halbwegs ausgewogen Ludwigs des Frommen Reich den jeweiligen Anteilen gemäß gedrittelt worden war, qualitativ, sozial- und kulturhistorisch, auch organisatorisch gesehen, waren die Unterschiede beträchtlich.
Der Westen und Italien repräsentierten alte, noch von der Antike imprägnierte Kulturlandschaften. Man war anspruchsvoller, vergleichsweise. Wenigstens da und dort gab es dichter gestreute Stadtregionen. Es gab eine wie auch immer geartete Literalität, gab Bücher, Schulen. Wir begegnen hier auch ökonomischem Engagement, Handel- und Gewerbetreibenden sowie mehr und mächtigeren Aristokratenclans. Demgegenüber wirken weite Gebiete des Ostreichs »unterentwickelt«, »waldüberzogen, menschenleer, ›kulturlos‹ und ohne geistige Zentren« (Fried). Freilich lebten auch hier einige Vertreter der »karolingischen Renaissance«: Hrabanus Maurus, erst in der Neuzeit zum »praeceptor Germaniae« aufgestiegen; Walafrid Strabo, als Gesandter Ludwigs 849 in der Loire ertrunken; Notker Balbulus, der Mönch von Sankt Gallen.
Vielleicht war der Vertrag von Verdun noch nicht, wie namhafte ältere Historiker (Waitz, Droysen, Giesebrecht) glaubten, eine Art »Geburtsstunde« der deutschen und französischen Nationalität, zweier Völker, in deren Interesse man ihn gewiß nicht schloß. Doch eine deutsche, eine
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