Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
einer Welle nach der anderen. Er begann zu zittern, spürte, wie sich in seinem Inneren alles verkrampfte.
Dann schaute er wieder auf den Monitor. Er zeigte nur einen Herzschlag. Die Erkenntnis, dass es nur eine Halluzination gewesen war, hätte ihn beruhigen sollen. Doch das geschah nicht.
Er spürte, wie die Medikamente durch seinen Blutkreislauf wirbelten, seine Bewegung lähmten, sein Sehvermögen beeinträchtigten, aber es war egal. Das Herz des Fremden schlug weiter und weiter und weiter ...
»O Gott«, wimmerte er. Er hatte sich noch nie in seinem Leben so elend gefühlt oder solche Angst gehabt. »Du hättest mich sterben lassen sollen.«
»Entspann dich doch einfach, Angel. Entspann dich. Wir reden später.«
Er spürte, dass sie seine Hand drückte, spürte, dass sie seine tränennasse Wange streichelte, und er wollte von ihr getröstet werden, sehnte sich geradezu danach.
Aber er konnte es nicht. Es war egal, was sie später sagen würde, was normal sei oder zu erwarten gewesen war, wie sie erzählt hatte. Er kannte die Wahrheit, kannte sie mit jedem Schlag des Herzens des Fremden.
Jemand lebte in ihm.
Es war kalt an dem düsteren Flussbett, an dem Lina allein stand, auf ihre Freunde wartete, um am Ufer entlangzulaufen. Sie würden wie immer auf dem Hang auftauchen, einer nach dem anderen, ihre Körper silhouettenhaft gegen das kalte Blau eines Herbsthimmels gezeichnet, ihre Hände tief in die Taschen gesteckt, Zigaretten aus den Mundwinkeln baumelnd. Sie hatte sie reden gehört, bevor sie den Gipfel des Hügels erreichten, und ihre Stimmen waren hoch und ausgelassen.
Es löste immer einen kurzen stechenden Schmerz von Sehnsucht in ihr aus, dieser erste Klang ihrer lachend geführten Unterhaltungen. Sie stand dann auf, reckte den Hals, um das erste vertraute Gesicht zu sehen, das erste »He, Lina! Halt den Platz für mich frei!«, gerufen zu hören.
Wann immer sie den Hohlweg hinab auf sie zugeschwankt kamen, ihre Tennisschuhe durch das feuchte Herbstlaub rutschten und schlitterten, ihre Rucksäcke auf ihren Rücken tanzten, hatte sie - für einige kurze, schöne Augenblicke - das Gefühl, zu ihnen zu gehören.
Die Bande traf sich hier jeden Morgen vor der Schule, sammelte sich wie verlorene Seelen, zueinander hingezogen, um Zigaretten, Schnaps, Hasch und eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl zu teilen.
Sie waren die »missratenen« Kinder, die Problemkinder. Jeder wusste das, von den Lehrern über die Studienberater bis hin zum Direktor. Einmal in jedem Schulhalbjahr kam einer der neuen Lehrer diesen bröckelnden Erdwall heruntergeeilt, richtete anklagend einen Finger auf sie und schalt sie alle. Doch am Ende des Jahres würde dieser Lehrer müde sein und es würde viele weitere Tage geben, an denen sie hier allein standen, miteinander sprachen, über ihren eigenen Mut lachten, sich für unbesiegbar hielten.
Aber Lina fühlte sich nicht mehr unbesiegbar und nichts, was so leicht erhältlich war wie ein paar Zigaretten, würde den Schmerz lindern, der auf ihre Lunge drückte, so stark, dass sie manchmal glaubte, nicht atmen zu können, ohne dabei anzufangen zu weinen.
Sie steckte die Hände in ihre weiten, verschlissenen Jeans und setzte sich auf einen bemoosten Fels. Zwei hoch aufragende Kiefern standen gelassen zu beiden Seiten von ihr, ihre anmutigen Äste nach unten gesenkt, einem Schirm gleich, der nach einem Regen halb offen gelassen worden war.
»He, Lina!« Es war Jett, der auf dem Kamm des Hügels stand, ganz in Schwarz gekleidet, sein kurz geschnittenes Haar dazu passend gefärbt. Er sprang wie ein Skiläufer über den Rand, die Knie angezogen, die Arme weit ausgestreckt. Seine Schuhe trafen hart auf den Boden und rutschten unter ihm weg. Mit einem juchzenden Schrei rannte er den ganzen Weg hinunter, sprang über den Bach und kam neben ihr atemlos zum Halt.
Sie starrte ihn an, diesen Jungen, in den sie seit fast zwei Jahren verknallt war, und hatte plötzlich das Gefühl, ihn vorher nie gesehen zu haben. Das löste in ihrem Bauch leichte Übelkeit aus und sie fühlte sich unsicher, als sie sich erhob.
Er grinste sie an, ließ seine weißen Zähne blitzen. »Kann ich mir 'ne Zigarette schnorren?«
Es war immer das Erste, was er zu ihr sagte. »Sicher«, murmelte sie, griff in ihre Ledertasche und zog ein Päckchen heraus. In der Sekunde, als sie es berührte, wusste sie, dass es leer war. Sie verzog überrascht das Gesicht. Wann hatte sie all diese Zigaretten geraucht?
Dann
Weitere Kostenlose Bücher