Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
langer Zeit gemacht. Ich dachte nicht daran ...«
Angel sah, dass für ihn neben Madelaine gedeckt war. Da gab es natürlich keinen Handabdruck, nur das reine, weiße Leinen zu beiden Seiten seines Tellers. Es vermittelte ihm albernerweise das Gefühl, fehl am Platze zu sein.
Schließlich kam Madelaine aus der Küche. Sie trug einen Topf mit grüner Farbe. Sie sah seinen Blick und blieb stehen. Die Blässe auf ihren Wangen und das leichte Zittern der Unterlippe entging ihm nicht. »Es ist eine Familientradition«, sagte sie leise. Sie lächelte ihn zärtlich an. »Ist ein bisschen schmutzig.«
Er nahm ihr die Farbe und den Pinsel aus den Händen und strich sich wortlos die Handflächen ein, drückte dann sorgfältig zu beiden Seiten seines Tellers die Hände auf das Tuch. Als er fertig war, starrte er auf sein Werk, auf den ganzen Tisch und fühlte sich, als sei er endlich heimgekommen.
»Ich werde nach dem Essen 1996 über deine Hände schreiben«, sagte Lina.
Angel ging, um die Hände zu waschen. Als er zurückkam, hatten Madelaine und Lina Platz genommen. Sie schauten beide auf Francis' Handabdrücke am Kopfende des Tisches, auf seinen leeren Platz.
Angel hatte nicht daran gedacht, wie schwer dies für sie sein würde - der erste Feiertag ohne Francis. Er hätte daran denken müssen, hatte es aber nicht. Er setzte sich leise.
Stille breitete sich um sie, durchdrang die Düfte, die den Mund wässrig machten. »Ihr beide seid glücklich«, begann er leise. »Ihr habt so viele Erinnerungen an ihn und die werdet ihr nie verlieren. Eure Tradition hat ihn an diesen Tisch gebracht und er wird für immer hier sein, sein Geist wird für immer in diesen verrückten gelben Fingerabdrücken sein.«
Er hörte Lina schniefen und sah, dass sie sich die Augen wischte.
»Es gibt so viele Dinge, die ich ihm und euch sagen möchte, aber das müssen wir nach und nach tun, immer an einem Feiertag. Seien wir im Augenblick dankbar dafür, dass wir hier sind, gemeinsam. Das ist es, was Francis gewollt hätte.«
Madelaine schaute ihn an, lächelte über den Tisch hinweg und griff nach seiner Hand. »Es ist wohl deine Aufgabe, den Truthahn aufzuschneiden, denke ich.«
Er spürte, dass der Geist seines Bruders sich über ihn neigte, ihm ins Ohr hauchte, während er nach dem Messer griff. Tausend Dinge gingen ihm durch den Kopf, Dinge, die er sagen wollte, sagen musste, aber alles, was an die Oberfläche kam, war: »Komm schon, Bruder, zeig mir, wie man diesen Vogel aufschneidet.«
Er wollte gerade aufstehen, als er eine vertraute Stimme in seinem Kopf hörte: Fang bei der Brust an, Angel. Bei Gott, du solltest wissen, wie man das macht.
Angel spürte, dass er zu lachen begann. Als er aufblickte, lächelten Madelaine und Lina ihn an. Ihre Tränen waren fort.
Und er machte sich daran, den Vogel aufzuschneiden.
Der Dezember senkte sich mit einer knarrenden, klagenden Schicht von Grau und Weiß auf Seattle. Dicke Wolken hingen tief am Himmel und verdeckten selbst die kühnsten Strahlen der schwachen Sonne. Kahle, zitternde Bäume duckten sich an den Straßenrändern. Der Wind winselte jammernd in den kahlen Ästen. Der Abend hatte gerade begonnen, den Horizont zu verdunkeln.
Angel war nervös, als er zu Madelaines Haus hochfuhr. Seit er zum ersten Mal mit ihr geschlafen hatte, war er ein Dutzend Nächte und Tage hier gewesen, aber heute sah das Haus anders aus. Eis glänzte auf den Ziegeln des Fußweges, funkelte auf den alten braunen Schindeln des Daches. Die Kälte ließ alles gläsern und zerbrechlich erscheinen.
Er ließ den Motor laufen und stieg aus dem Wagen. Rauchwolken strömten aus dem Auspuff und verschwanden in der eisigen Luft.
Er schritt zur Haustür und blieb stehen, richtete den Sitz seines dunkelblauen Anzuges und klopfte dann.
Lina öffnete ihm die Tür. Sie trug ein grünes Samtkleid mit einem weißen Spitzenkragen und eine breite, weiße Schärpe. Sie sah so wunderschön aus. Er empfand unbändige Freude darüber, dass er nach all diesen verlorenen Jahren und diesen entgangenen Augenblicken hier war. Er streckte die Hand nach dieser schönen jungen Frau aus, die seine Tochter war.
»Wie geht's meinem Mädchen?«, sagte er.
Sie lächelte. »Gut. Ist alles bereit?«
Er zuckte die Schultern, spürte, dass seine Nervosität wiederkam. »Ich hoffe es. Ich habe gestern eine Million Mal mit Vater MacLaren gesprochen. Er sagte, meine Musikwahl sei etwas ... ungewöhnlich, aber er ließ mich tun, was ich
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