Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
ist, Baby.«
Lina wich vor ihr zurück und wirbelte herum, starrte blicklos aus dem Fenster. Dann ließ sie sich langsam auf den nächsten Stuhl sinken und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.
Tränen traten in Madelaines Augen. Sie wollte ihnen freien Lauf lassen, so wie Lina es getan hatte, wollte die Erleichterung, die das Weinen brachte, aber sie konnte es nicht. Sie blickte zu Dr. Nusbaum auf. »Können wir ihn sehen?«
»Natürlich«, sagte er weich. »Bitte, folgen Sie mir.«
Der Krankenhauskorridor war unheimlich still. Krankenschwestern gingen auf Schuhen mit Kreppsohlen vorbei, bewegten mit ihrer Anwesenheit kaum die Luft. Zimmer um Zimmer war dunkel, die Vorhänge zugezogen. Leere Stühle säumten die weißen Wände. Magazine lagen auf Formica-Tischen gestapelt.
Lina war in Krankenhäusern aufgewachsen. Als Kind hatte sie in solchen Korridoren gespielt, war lächelnden Krankenschwestern hinterhergelaufen, hatte auf Wartezimmerstühlen Dr.-Seuss-Bücher gelesen. Krankenhäuser waren für sie immer der Arbeitsplatz ihrer Mutter gewesen. Es gab keinen Unterschied zu einem Anwaltsbüro oder einem Schönheitssalon.
Aber jetzt sah sie sie als das, was sie waren - schattenhafte Lagerhäuser, wo die Toten und Sterbenden in stillen, mit Vorhängen verhüllten Räumen untergebracht waren, wo Maschinen saugten und piepten und Leben durch dicke elektrische Kabel erhielten.
Sie spürte ihre Mutter neben sich, hörte ihre Pfennigabsätze auf dem Linoleumboden klappern. Sie wollte ihre Hand in die Hand ihrer Mom schieben und sie drücken, aber sie konnte sich nicht überwinden, das zu tun. Ihre Arme schienen schlaff zu sein, hingen schwer an ihren Seiten. Und ihre Beine waren so weich wie Wackelpudding. Tränen waren ein stechender, brennender Schleier, der alles in ein weißes Geschmiere verwandelte.
Schließlich blieb Dr. Nusbaum vor einem Zimmer stehen. Die Tür war geschlossen. Daneben gab ein großes Beobachtungsfenster den Blick in das Zimmer frei. Ein gelber Vorhang war um das Bett zugezogen, verbarg Francis vor ihren Blicken.
Der Arzt wandte sich zu ihnen. »Er sieht...« Er warf einen schnellen Blick zu Lina und sprach dann leise zu Madelaine. »Die Verletzung an der linken Seite war schwer. Er ist natürlich verbunden, aber...«
Lina dachte augenblicklich an Francis' Lächeln, an dieses breite Lächeln, das sich über sein ganzes Gesicht zu ziehen schien, Fältchen um seine Augen bildete und ein Dutzend kleiner Falten auf seinen Wangen schuf.
Sie atmete scharf ein.
»Danke, Dr. Nusbaum«, sagte ihre Mutter mit steifer, hölzerner Stimme. »Ich werde mit Ihnen sprechen, nachdem ich ihn gesehen habe.«
Lina starrte ihre Mutter schockiert an und fragte sich, wie sie in diesem Augenblick so sachlich sein konnte.
Dr. Nusbaum nickte und ließ sie allein.
»Ich verstehe nicht, Mom«, flüsterte sie und versuchte angestrengt, nicht zu weinen. »Vielleicht liegt er im Koma... Menschen erwachen doch aus einem Koma, oder? Vielleicht, wenn wir mit ihm reden ...«
Mom schluckte schwer. »Das hier ist anders, Baby.«
Lina wünschte sich, nicht zu verstehen. Aber sie verstand. Sie war das Kind einer Ärztin und wusste, was Hirntod bedeutete. In einem Koma funktionierte das Gehirn und deshalb gab es Hoffnung. Wenn das Gehirn aber starb, gab es keine Hoffnung. Francis, ihr Francis, war tot und er kam nicht zurück.
Eine lange Zeit - Lina konnte das leise Ticken der Uhr über ihren Köpfen hören - standen sie dort, starrten einander an und sagten nichts.
»Ich muss ihn sehen«, sagte ihre Mutter schließlich.
Lina wandte sich dem Fenster zu, trat näher. Sie streckte die Hände aus, berührte die Glasscheibe und dachte - völlig verrückt -, dass es so sei, als berühre sie Francis zum letzten Mal. Aber die Scheibe fühlte sich nur kalt und platt an.
Hinter dem dünnen Schleier des absurd gelben Vorhangs konnte sie die schattenhafte Kontur eines Körpers in einem Bett sehen, das Heben und Senken eines schwarzen Zylinders daneben. Sie versuchte, durch den Vorhang hindurchzusehen, sich einfach nur für eine Sekunde vorzustellen, wie es sein müsste, in diesen Raum zu treten und ihren Francis in einem Krankenhausbett liegen zu sehen, seine Wangen weiß, das Gesicht eingefallen, die Augen - o Gott, seine Augen, seine blauen, blauen Augen...
»Ich kann es nicht, Mom«, flüsterte sie und schüttelte den Kopf. Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Sie fühlte sich so gemein. Aber sie konnte es nicht
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