Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
auf den Sicherheitsgurt aus Nylon.
Madelaine streckte zaghaft eine Hand aus und bedeckte Linas kalte Hand mit ihrer eigenen.
Lina sagte leise: »Ich glaube, er ist tot.«
»Nein.« Madelaine antwortete schnell. »Er ist im Operationssaal. Wenn er tot wäre ...« Sie konnte nicht weiterreden, konnte nicht daran denken. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Wenn er tot wäre, würde ich es fühlen.«
Daraufhin wandte Lina sich zu ihr, die Augen vor Hoffnung geweitet. »Was meinst du damit?«
Madelaine verschränkte ihre Finger mit denen Linas und hielt ihre Hand fest, bis das Fleisch wieder warm wurde. Sie drehte sich leicht in ihrem Sitz, so dass sie den Kopf anlehnen konnte. »Ich war sechzehn, als ich Francis kennen lernte.« Sie schloss die Augen und dachte an Dutzende Augenblicke auf einmal. Sie sah ihn an jenem Tag, als er zur Praxis des Arztes gekommen war, um sie zu retten - die Kavallerie in Gestalt eines Bücher verschlingenden, blauäugigen Achtzehnjährigen mit einem Herzen so groß wie die ganze freie Natur. Sie hatte neben dem öffentlichen Telefon gekauert, war jedes Mal nervös zusammengezuckt, wenn die Tür sich öffnete, sicher, dass Alex jede Sekunde hereingedonnert käme. Aber es war nur Francis gewesen, der zu ihr gekommen war, seine Arme nach ihr ausgestreckt und ihre Hand genommen hatte. Maddy-Mädchen, du bist auf der falschen Seite der Stadt.
Hilf mir, hatte sie geflüstert und Tränen waren ihr über die Wangen gelaufen. Und dann seine Antwort, ein Wort nur, so einfach, so schnell. Immer.
Madelaine versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Ich wüsste es, wenn er tot wäre. Ich würde es fühlen ...«
»Was?«, wollte Lina wissen.
»Nichts.« Sie bedeckte ihr Herz mit einer Hand, spürte den pochenden Puls ihres eigenen Lebens. »Hier drin, da wäre ich leer.« Ihre Stimme krächzte, als die Bilder zurückkehrten -Francis lächelnd, lachend, ihre Hand haltend, ihre Tränen trocknend, sie sein Maddy-Mädchen nennend. »Ich glaube nicht, dass ich ohne ihn atmen könnte ... und ich atme.«
Madelaine schwieg, verloren in der Welt ihrer Erinnerungen. Es dauerte einen Augenblick, bis sie bemerkte, dass Lina ebenfalls schwieg, dass Tränen, eine nach der anderen, über ihre Wangen rollten.
Madelaine berührte das Kinn ihrer Tochter. »Oh, Baby...«
Lina schluckte schwer, starrte aus dem Fenster hinter Madelaine. »Ich habe ihn angeschrien«, sagte sie mit leiser, gequälter Stimme. »Als ich ihn das letzte Mal sah ...«
»Tu das nicht«, sagte Madelaine eilig.
Lina schloss fest die Augen. »Ich habe ihn verletzt.«
»Er sagte mir, er habe dich hängen lassen. Er wollte zum Jugendgericht kommen, um dich abzuholen ...« Kummer schloss sich so schmerzhaft um ihre Brust, dass sie kaum atmen konnte. »Er ... er hatte Angst, dass du ihm nicht verzeihen würdest.«
»Das habe ich«, flüsterte Lina. »Das habe ich.«
Madelaine schob das Gewicht ihrer Schuld fort und versuchte angestrengt, ihrer Tochter ein Lächeln zu schenken. »Sag ihm das selbst, wenn du ihn siehst.«
Madelaine war im Laufe ihres Berufslebens tausendmal in Wartezimmern von Krankenhäusern gewesen, hatte aber nie wirklich zur Kenntnis genommen, wie diese waren. Wie die unverbindlichen Wände sich um einen schlössen, dass die Plastikstühle Rückenschmerzen auslösten. Wie nutzlos Illustrierte waren. Ja, sogar beleidigend. Was wurde von ihr jetzt erwartet - dass sie etwas über den heldenhaften Kampf einer berühmten Persönlichkeit gegen seine Kokainsucht las?
Sie ging vor dem kleinen Fenster auf und ab, von dem aus man auf den Parkplatz schauen konnte.
Lina saß steif auf einem Stuhl neben dem Münztelefon. Keine von ihnen hatte in den dreißig Minuten, die sie jetzt hier waren, gesprochen. Man hatte ihnen gesagt, dass Francis noch immer im Operationssaal sei und dass ein Dr. Nusbaum mit ihnen sprechen würde, wenn die Operation vorbei wäre.
Madelaine hatte in den OP eilen wollen, wusste aber, dass sie nichts tun konnte. Die beste Hilfe, die sie anzubieten hatte, war, seine Hand zu halten, wenn es vorbei war.
Sie drehte sich um und warf wieder einen Blick auf die große schwarze Bahnhofsuhr an der Wand. Weitere sechzig Sekunden einer Ewigkeit tickten vorbei.
Schließlich trat ein großer, weißhaariger Mann in grünem Operationskittel in den winzigen Raum. Seine Gesichtsmaske hing lose um seinen Hals. Auf seiner Kleidung waren schwarzrote Blutspritzer. Sie schloss die Augen und versuchte nicht daran zu denken,
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