Kristin Lavranstochter 1
Leute hoben in der Kirche das Grab für Orm aus und fragten, ob auch Kristin dort bestattet werden oder ob sie zur Gregoriuskirche gebracht und dort neben Erlends Eltern beigesetzt werden solle.
Oh, aber - er hielt den Atem an vor Angst bei diesen Gedanken. Hinter ihm lag sein ganzes Leben voller Erinnerungen, vor denen er geflohen war, weil er nicht daran zu denken vermochte. Nun, in dieser Nacht sah er es. Er konnte es im Alltag so einigermaßen vergessen. Aber er konnte sich nicht dagegen wehren, daß es in einer Stunde wie dieser jetzt auftauchte - und da war ihm, als sei aller Mut aus ihm herausgepreßt.
Die Tage auf Haugen - für gewöhnlich glückte es ihm beinahe, sie zu vergessen. Er war nicht mehr auf Haugen gewesen seit jener Nacht, da er von dort wegfuhr, und er hatte Björn und Aashild bei seiner Hochzeit zum letztenmal gesehen. Er scheute sich, Herrn Björn zu begegnen. Und jetzt... Er dachte daran, was Munan erzählt hatte - es hieß, die beiden gingen dort um; es spuke so auf Haugen, daß man die Häuser leerstehen lasse. Kein Mensch wollte dort wohnen, und wenn er auch den Hof umsonst bekommen hätte.
Björn Gunnarssohn hatte eine Art von Mut besessen, wie ihn Erlend selbst - das wußte er - nie haben würde. Björns Hand war sicher gewesen, als er sein Weib tötete - mitten ins Herz, sagte Munan.
In diesem Winter wurden es zwei Jahre, seit Björn und Frau Aashild gestorben waren. Eine Woche lang hatten die Leute keinen Rauch aus den Häusern auf Haugen aufsteigen sehen; da nahmen sich einige Männer ein Herz und gingen hinauf. Herr Björn Jag mit durchschnittener Kehle im Bett; er hielt seine tote Gattin im Arm. Auf dem Boden vor dem Bett lag sein blutiger Dolch.
Alle hatten verstanden, wie es zugegangen war - trotzdem gelang es Munan Baardssohn und seinem Bruder, die beiden in geweihte Erde zu bringen; sie konnten Räubern zum Opfer gefallen sein, wurde gesagt, obwohl die Truhe mit Björns und Aashilds Besitz unberührt war. Mäuse und Ratten hatten die Leichen verschont - es gab übrigens derlei Ungeziefer nicht auf Haugen, und dies sahen die Leute als sicheres Zeichen für die Zauberkunst der Frau an.
Munan Baardssohn war durch das Ende seiner Mutter aufgeschreckt worden. Er hatte sich gleich danach auf eine Pilgerfahrt zum Sankt Jacob in Compostela* begeben.
Erlend entsann sich des Morgens nach jener Nacht, da seine eigene Mutter gestorben war. Sie lagen im Moldöy-Sund vor Anker, der Nebel stand weiß und dicht rings um sie, nur von Zeit zu Zeit erhaschten sie einen Schimmer von der Felswand, an der sie lagen. Aber als das Boot mit dem Priester an Land ruderte, warf der Fels den Laut der Ruderschläge mit dumpfem Widerhall zurück. Erlend stand vorne auf dem Schiff und sah die anderen wegrudern. Alles war naß vom Nebel, wo er auch hingriff, die Feuchtigkeit lag in Perlen auf seinem Haar und auf seinen Kleidern. Und der fremde Priester und sein Begleiter saßen vorn im Boot und duckten sich mit hochgezogenen Schultern über dem Heiligtum zusammen, das sie im Schoß hielten. Sie glichen Habichten im Regenwetter. Die Ruderschläge und das Knirschen in den Dollen und der Widerhall vom Felsen klangen noch träge weiter, lange nachdem das Boot vom Nebel verschlungen worden war.
Da hatte auch er gelobt, eine Pilgerfahrt zu machen. Damals war nur ein Gedanke in ihm gewesen: er mußte das lieblich süße Antlitz seiner Mutter Wiedersehen, wie es früher gewesen war - mit der weichen, glatten blaßbraunen Haut. Jetzt lag sie tot dort unten, das Gesicht von den entsetzlichen Wunden zerstört, aus deren Rissen kleine klare Wassertropfen hervorgequollen waren, jedesmal wenn sie versucht hatte, ihm zuzulächeln.
Er konnte doch wohl nichts dafür, daß der Vater ihn so emp-
* Stadt in Spanien, fangen hatte. Und daß er sich einem Menschen zugewandt hatte, der ausgestoßen war wie er selbst.
Da hatte er sich die Pilgerfahrt aus dem Kopf geschlagen, und dann hatte er an seine Mutter nicht mehr denken wollen. So schlimm sie es auf Erden gehabt hatte, so war sie jetzt wohl dort, wo Frieden herrschte - und für ihn gab es keinen sonderlichen Frieden, nachdem er wieder mit Eline angefangen hatte.
Frieden - das hatte er wohl nur ein einziges Mal in seinem Leben empfunden: in jener Nacht, da er hinter dem Steinwall gegen den Wald zu auf Hofvin saß und Kristin umfaßt hielt, die in seinem Schoß schlief, ihren ruhigen, sanften, ungestörten Kinderschlaf. Er hatte es nicht lange über sich gebracht, ihren
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