Kristin Lavranstochter 2
seines Vaters erhalten hatte, rascher dahinwelkte.
Keines, nein, keines ihrer Kinder hatte sie so geliebt wie dieses kleine Unglückskind. Keines hatte sie in so süßem und wildem Glück empfangen, keines hatte sie in so glücklicher Erwartung getragen. Sie dachte an die vergangenen neun Monate zurück; zum Schluß hatte sie auf Tod und Leben darum gekämpft, Hoffnung und Glauben festzuhalten. Sie vermochte nicht, dieses Kind zu verlieren - und sie vermochte nicht, es zu retten.
Der allmächtige Gott, die Königin des Erbarmens, der heilige Olav - sie fühlte es selbst, dieses Mal half es nichts, daß sie sich hinwarf und um das Leben des Kindes bettelte.
Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigem .. .
Sie besuchte an jedem Feiertag die Kirche, wie sie es zu tun gewohnt war. Sie küßte den Türrahmen, besprengte sich mit Weihwasser, verneigte sich vor dem alten Kruzifix über dem Chorbogen. Der Erlöser blickte herab, kummervoll und sanft im Todesschmerz. Christus starb zur Erlösung seiner Mörder.
Der heilige Olav steht in unablässiger Fürbitte vor seinem Angesicht, um jener Menschen willen, die ihn in die Verbannung trieben und ihn töteten.
Wie wir vergeben unseren Schuldigem ...
Holde Maria - mein Kind stirbt! Weißt du nicht, Kristin, lieber hätte ich das Kreuz meines Sohnes getragen und seinen Tod erlitten, als unter seinem Kreuz stehen und ihn sterben sehen zu müssen. Da ich aber wußte, daß dieses um der Erlösung der Sünder willen geschehen mußte, willigte ich in meinem Herzen ein - und ich willigte ein, als mein Sohn bat: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun ...
Wie wir vergeben unseren Schuldigem ...
Was du in deinem Herzen schreist, wird nicht zum Gebet, ehe du nicht dein Vaterunser ohne Falsch gebetet hast.
Vergib uns unsere Schuld ... Eptsinnst du dich, wie viele Male dir deine Schuld vergeben wurde? - Sieh deine Söhne an, dort drüben auf der Seite der Männer. Sieh ihn an, der zuvorderst steht, wie ein Anführer dieser lieblichen Jugendschar. Die Frucht deiner Sünde - bald zwanzig Jahre lang hast du gesehen, wie Gott seine Schönheit, seinen Verstand und sein Mannestum vermehrte. Erbarmen - wo ist dein Erbarmen gegen deinen jüngsten Sohn daheim?
Entsinnst du dich deines Vaters, entsinnst du dich Simon Darres?
Aber zuinnerst in ihrem Herzen fühlte sie nicht, daß sie Erlend vergeben hatte. Sie konnte es nicht, denn sie wollte es nicht. Sie hielt die Schale ihrer Liebe umfaßt, wollte sie auch jetzt nicht loslassen, obgleich sie nur noch den letzten bitteren Rest enthielt. In dem Augenblick, in dem sie Erlend verzeihen und sogar ohne diese verzehrende Bitterkeit an ihn denken konnte - in dem Augenblick war alles vorbei, was je zwischen ihnen gewesen war.
So stand sie während des Gottesdienstes da und wußte, sie würde keinen Nutzen davon haben. Sie versuchte zu beten: Heiliger Olav, hilf mir, tue ein Wunder in meinem Gemüt, auf daß ich mein Gebet ohne Unwahrheit sprechen kann - mit gottesfürchtiger Ruhe in der Seele an Erlend denken kann. Aber sie wußte, sie selbst wünschte es nicht, daß diese Bitte erhört würde. Da fühlte sie selbst, daß es unnütz war, wenn sie darum betete, ihr Kind behalten zu dürfen. Der kleine Erlend war ein von Gott geliehenes Gut - nur unter einer Bedingung sollte sie ihn behalten dürfen, und diese Bedingung nahm sie nicht an. Und Sankt Olav etwas vorzulügen war vergeblich.
So saß sie da und wachte über das kranke Kind. Ihre Tränen rahnen und rannen; sie weinte ohne einen Laut und ohne das Gesicht zu verziehen, das ganz grau und steinhart war; nur das Weiße der Augen und die Augenlider wurden immer röter. Kam jemand zu ihr herein, so fuhr sie sich rasch über das Gesicht und saß nur stumm und starr da.
Dennoch genügte so wenig, um sie aufzutauen. Kam einer der größeren Söhne herein, warf einen Blick auf das kranke Kind und sagte einige sanfte, mitfühlende Worte zu ihr, so konnte die Mutter sich kaum davon zurückhalten, in lautes Schluchzen auszubrechen. Hätte sie mit den erwachsenen Söhnen über ihre Angst um den Kleinen sprechen können, so wäre ihr Herz gewiß geschmolzen, das wußte sie. Aber die Kinder waren jetzt ihr gegenüber scheu geworden. Seit dem Tage, da sie heimkamen und erfahren hatten, welchen Namen sie dem jüngsten Bruder gegeben hatte, schienen die Knaben sich noch enger zusammengeschlossen zu haben und standen gleichsam ganz weit von ihr entfernt. Aber eines
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