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Kristina, vergiß nicht

Kristina, vergiß nicht

Titel: Kristina, vergiß nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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Ansichtskarten mit kurzen Grüßen von Vater, einen langen Brief von Onkel Albert Bienmann*, der 1944 mit seinen Eltern aus Ostpreußen geflohen war. Er schrieb von den Verträgen, die die Bundesrepublik mit Polen geschlossen habe und die bald alles viel einfacher machen würden. Er selbst wolle im Frühjahr mit einer Reisegesellschaft nach Polen kommen, um seiner Frau zu zeigen, wo er als Kind gelebt habe. Aber die Kreisverwaltung schrieb nicht.
    »Geh los, damit du pünktlich bist«, sagte Großmutter, »und bestelle der Jablonska einen schönen Gruß.«
    Kristina packte die Noten in die Tasche und nahm die Flöte. Auch das blaue Notenheft steckte sie ein, das Andrzej ihr gegeben hatte. »Für unseren Abend im Jugendclub«, hatte er gesagt. Sie hatte die zehn Variationen für Flöte und Gitarre mit ihm gespielt, herrliche Melodien. Dennoch hatte sie widerstrebend und nur auf sein und Basias wiederholtes Drängen zugesagt im Jugendclub zu spielen. Es hatte Auseinandersetzungen gegeben. Eine Gruppe von Scharfmachern aus dem neuen Siedlungsgebiet wollten keine Schwabis auf der Bühne des Jugendclubs. Der Leiter des Jugendclubs hatte zwar durchgesetzt, dass Andrzej mit Kristina spielen durfte, aber die Spannungen waren geblieben. Kristina wäre dem Abend am liebsten ausgewichen, hätte gern abgesagt. Sie fürchtete sich und hatte mit Großmutter darüber gesprochen.
    »Es ist keine Schande Deutsche zu sein. Aber du musst selber wissen, was du tust.« Mehr war aus Großmutter nicht herauszubekommen.
    Kristina wusste es nicht sicher. Gestern war sie fest entschlossen, sich nicht um das Gerede zu kümmern. Heute, ein paar Stunden vor dem Auftritt, verwünschte sie sich, weil sie zugesagt hatte. Sie ging die paar hundert Meter um die Ecke zum Haus der Flötenlehrerin. Die Jablonska wohnte im ehemaligen Gärtnerhaus einer schönen Villa, die vor dem Kriege dem reichsten Mann des Ortes gehört hatte, ihrem Vater. Jablonski, Seiden und Tuche, Import und Export. Den Jablonski, seine Frau und bis auf die zweitjüngste Tochter all seine Kinder hatte der Krieg geschluckt, und seinen blühenden Handel dazu. Die Ölfarbenaufschrift auf den wuchtigen Torpfeilern war noch deutlich zu lesen, obwohl sie bereits mehrmals mit Kalkbrühe überstrichen worden war.
    Die Villa war sorgfältig wieder hergerichtet. Zwei Chemiker des Industriekombinats wohnten darin mit ihren Familien. Auch der Park vor der Villa konnte sich sehen lassen. Dort aber, weit hinter dem Haus, wo die Jablonska hauste, glich der Park einer Wildnis. Nur ein schmaler Pfad führte zu dem aus schweren Steinen gebauten ehemaligen Gärtnerhäuschen, das der Jablonska geblieben war. Das nasse Herbstwetter der letzten Wochen hatte den Weg glitschig gemacht.
    Geschickt übersprang Kristina die großen Pfützen. Sie kannte den Pfad genau. Vier Jahre schon wachte die Jablonska streng über die Fortschritte, die Kristina mit ihrem Instrument machte. Erst hatte sie »du« gesagt, aber seit dem Tag, an dem Kristina vierzehn geworden war, redete sie das Mädchen mit »Sie« an. Ob »du« oder »Sie«, ihre Strenge blieb gleich. Kaum gönnte sie sich ein privates Wort. Schneidend war ihr Tadel, wenn Kristina gebummelt hatte. Ihr seltenes Lob konnte Kristina dagegen an drei Fingern aufzählen.
    Nach einem halben Jahr Unterricht hatte sie gesagt: »Du hast einen Mund, der für die Flöte gebaut ist. Es lohnt sich.« Zwei Jahre später, als sie eine schwierige Etüde von Gariboldi leicht und flüssig geblasen hatte, gab die Jablonska zu: »Du hast fleißig geübt, Kristina. Es ist schwierig, leicht zu blasen.«
    Endlich an ihrem vierzehnten Geburtstag: »Du bist vierzehn. Ich werde dich jetzt ›Sie‹ nennen. In Ihnen steckt das Zeug zu einer guten Flötistin. Gut wird man in der Musik nur durch Schweiß. Lassen Sie vor allem die jungen Männer aus Ihrem hübschen Kopf. Die Flöte ist ein eifersüchtiges Instrument.« Die Skala ihres Tadels war weit farbiger. Sie reichte vom schmerzenden Schlag mit einem dünnen Stöckchen auf die Finger bis zum missbilligenden Hochziehen ihrer schwarzen geschwungenen Brauen.
    Trotz dieser nicht gerade einladenden Strenge ging Kristina recht gern zur Flötenstunde. Irgendwie fühlte sie sich angezogen von dieser Frau mit den dunklen, blanken Augen, der elfenbeinfarbenen Haut, dem pechschwarzen Haar, in der Mitte schnurgerade gescheitelt und streng zu einem festen Knoten geflochten. Die Stunde verlief im gewohnten Gleis: »Der Ansatz! Kristina,

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