Kristina, vergiß nicht
gab einen Wortwechsel. Immer härter droschen sie zunächst mit Beschimpfungen aufeinander ein, schließlich hatte Donatka sich hinreißen lassen und Stanek geohrfeigt. Diese Ohrfeige brannte tiefer und heißer, je länger sie zurücklag. Sie sprachen zwar nach einem Monat wieder miteinander, aber nur das, was zwei reden müssen, wenn sie zusammenleben.
Es war ein paar Wochen nach Weihnachten, als Janina eines Nachmittags bei Großmutter anklopfte, gar nicht erst auf das »Herein« wartete, sondern hastig ins Zimmer stürmte.
»Denken Sie nur, Frau Bienmann, wir haben heute Morgen die Ausreisegenehmigung erhalten.«
Kristina, die über ihren russischen Vokabeln gesessen hatte, sprang auf, fasste Janina um die Schultern und sagte: »Wie schön für euch alle, Janina.«
Großmutter wiederholte mechanisch: »Wie schön für euch, Kind.« Aber Niedergeschlagenheit klang aus ihrer Stimme.
»Freut ihr euch?«, fragte Kristina.
»Vater bestimmt. Und Stanek auch. Er ist ganz wild auf den Westen. Meint, er hätte bald ein Auto.«
»Und du?«
»Na, du kannst dir ja denken, wie mir zumute ist. Ich bin ganz aufgeregt. Mir geht es ein bisschen wie Wroni. Wir fürchten uns.«
»Aber warum denn?« Großmutter hatte sich wieder gefasst.
»Es wird euch bald gut gehen, dort drüben.«
»Was meinen Sie, Frau Bienmann«, fragte Janina, »werden wir, wird Wroni bald deutsch sprechen lernen?«
»Ganz gewiss wird sie das, Kind. Wenn alle deutsch sprechen, dann ist das für euch die beste Schule. Und außerdem ist dir das Deutsche nicht fremd.«
»Wir werden sehen.«
Janina war schon wieder an der Tür.
»Bei uns ist heute allerhand los«, sagte sie. »Aber ich wollte Ihnen die Neuigkeit zuerst bringen. Sie warten ja schon so lange.«
Großmutter wollte noch nach den näheren Umständen fragen, ob Donatka vielleicht einen von der Kreismiliz gut kenne, wann sie reisen würden, ob der Schwager im Westen schon Bescheid wisse. Aber Janina rannte bereits die Treppe hinab.
Wolf, der bislang ruhig in seinem Korb gelegen hatte, sprang auf und bellte ihr nach.
»Wie schön für die Donatkas«, flüsterte Großmutter, setzte sich auf den Stuhl vor dem Tisch, starrte eine Weile vor sich hin und verbarg schließlich das Gesicht in den verschränkten Armen. Der Hund schlich um sie herum und legte den Kopf in ihren Schoß. Er wartete vergeblich darauf, dass Großmutter sein Halsfell kraulte.
Kristina strich der alten Frau behutsam über den Rücken.
»Wird mit uns schon auch werden«, tröstete sie. Großmutter richtete sich auf.
»Es wird Zeit, Kind. Deine Mutter ist vier Jahre allein. Sie ist eine Frau in den besten Jahren. Wir müssen hinüber.«
Jarosinski wird sie zu trösten wissen, dachte Kristina.
Großmutter stand auf, nahm das Foto ihres Sohnes von der Kommode und murmelte: »Er hätte nicht so einfach gehen dürfen. Er ist ein Filou. Hat es von den Bienmanns.«
»Wieso?«, fragte Kristina.
Die alte Frau, die mehr zu sich selber geredet hatte, wandte sich an ihre Enkelin. »Ach, Kind. Eine lange Geschichte. Mein Schwiegervater, der Lukas Bienmann, zog schon mit 15 Jahren nach Amerika. Das war 1869. Zwei Jahre suchte er dort nach seinem Vater, Karl Bienmann. Der war nämlich eines Tages verschwunden, ohne viel nach Frau und Sohn zu fragen. Nie nach Ostpreußen zurückgekehrt ist er. Den Bienmanns hat es immer in den Schuhen gejuckt.«
»Erzähl doch mehr, Großmutter«, bat Kristina.
Großmutter schaute ein wenig spöttisch auf ihre Enkelin. »Willst mich wohl auf andere Gedanken bringen, wie?« Sie war wieder die alte, beherrschte Frau.
»Ich werde später hinübergehen zu den Donatkas, weißt du. Ich werde sie fragen nach den Umständen. Vielleicht gibt Donatka mir einen Rat.«
»Darf ich mit?«
»Warum nicht? Aber nimm dich in Obacht vor dem Burschen, dem Stanek. Er will was von dir.«
»Was du nur immer hast, Großmutter.«
Am späten Nachmittag hüllte sich Großmutter in ihr schwarzes Wolltuch. Kristina schlug sich den Mantelkragen hoch. Es war nicht weit bis zur Wohnung der Donatkas. Der hart gefrorene Schnee knirschte unter ihren Sohlen. Schon als sie die Haustür öffneten, schlugen ihnen Stimmengewirr und Tabakrauch entgegen.
»Scheint ja allerhand los zu sein«, sagte Kristina. Im Flur war der eiserne Ausguss mit Flaschen gefüllt und das Wasser lief aus dem Kran und kühlte das Bier.
Die Großmutter machte die Tür zur Küche hin auf. Fröhliches Geschrei schallte ihnen entgegen.
Donatka sah sie und
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