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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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lachen können. Er hatte nur traurig gekuckt und gesagt: »Wenn das in fünf Minuten nicht weg ist, brauchste nicht mehr wiederzukommen.«
    Seit dreißig Jahren, seit Richard Diek Leiter der Expedition war, lebten er und seine Frau Lilo in einer Werkswohnung gleich über den Reparaturhallen. Kinder hatten sie keine, obwohl sie sich, laut Richard, immer welche gewünscht hatten. Mit einem Tandem hatten sie weite Fahrten durch Deutschland und die Nachbarländer gemacht, um sich über diese Lebensenttäuschung hinwegzutrösten. Anfangs hatte Manne sich das ältliche, kleine Ehepaar schlecht auf einem Tandem vorstellen können, eines Tages aber brachte Richard ein verblichenes Schwarzweißfoto mit: Da standen Little Richard und Little Lilo neben ihrem riesigen Gefährt am Rhein, im Hintergrund der Loreley-Felsen, und strahlten stolz gegen die Sonne an.
    Noch lieber als von diesen Fahrten erzählte Richard von Südamerika. Als junger, noch zehnfingriger Techniker hatte er dorthin auswandern wollen, nachdem er im Auftrag der Firma, für die er damals arbeitete, in Argentinien gewesen war. Ein Foto zeigte ihn mitten in der Pampa: Da saß der noch ganz junge Richard hoch droben auf einem riesigen Pferd und lächelte wie ein Kind, das zum ersten Mal Pony reiten durfte. Ein ganz anderer Richard war das; ein Richard, der außer Arbeit und Fleiß noch andere Flügel kannte; nur der Poposcheitel war schon derselbe.
    »Warum biste denn nicht gleich dageblieben?«
    Achselzucken. »Wollte noch mal zurück, um mich von meinen Eltern zu verabschieden – tja, und da hab ich dann meine Lilo kennen gelernt …«
    Eine Geschichte, die Manne erschütterte. Was für eine märchenhafte Weggabelung: Gehst du nach links, wirst du dein Leben lang die sonnige Weite Südamerikas genießen; gehst du nach rechts, wirst du nach einem Unfall zwei Finger verlieren, bis zur Rente in einer kleinen, verstaubten Expedition hocken und einen furchtbaren Zweiten Weltkrieg miterleben – und hast noch Glück, dass du der fehlenden zwei Finger wegen nicht Soldat werden musst!
    Politisch setzte Richard auf Neutralität. »Im Westen ist’s nicht besser und nicht schlechter«, sagte er immer, »nur bunter.« Und: »Im Kapitalismus verliert der Mensch alles Rückenmark.« Den Sozialismus setzte er gleich mit Schlamperei. »Später kommen, Pause überziehen, früher gehen, das ist sozialistische Arbeitsmoral. Im Kapitalismus würde man so was feuern.«
    Fragte Manne ihn, ob er dieses Feuern denn gut fand, druckste er herum: »Eigentlich nicht!«
    »Und uneigentlich?«
    »Uneigentlich doch!«
    Sie führten diese Gespräche stets abends, kurz vor Feierabend, wenn alle Arbeit getan war und sie sich in Richards Büro gegenübersaßen, der kleine Richard an seinem großen, der große Manne an seinem kleinen Schreibtisch.
    »Und verliert man im Sozialismus denn kein Rückenmark?«
    »Ja, aber doch nur, wenn man will! Wer keine Karriere machen will, braucht sich auch nicht zu krümmen.«
    War Richard, der doch ganz sicher mehr konnte als eine kleine Expedition leiten, deshalb dreißig Jahre lang in dieser kleinen Miefbude stecken geblieben? Weil er sich nicht krümmen wollte? Nicht im Kapitalismus, nicht im Nationalsozialismus, nicht im DDR-Sozialismus? An den fehlenden zwei Fingern konnte es nicht gelegen haben.
    »Und wer siegt eines Tages? Der Kapitalismus – oder der Sozialismus?«
    »Der Sozialismus.«
    »Trotz der Schlamperei?«
    »Der Sozialismus muss siegen. Sogar die Neger in Afrika begreifen den. Und warum? Weil er gut für sie ist. Nazis hätten die nie werden können. Eben weil se Neger sind. Das Gleiche gilt für alle anderen Menschen, denen es bisher nur schlecht ging. Sie sind in der Mehrheit, sie werden durchsetzen, was gut für sie ist.«
    Er war überzeugt von seiner Weitsicht, der Richard Diek. »Die Sozialisten können so viele Fehler machen, wie sie wollen, auf Dauer hat der Kapitalismus, wenn er sich nicht gewaltig ändert, keine Chance.« Sagte es und zählte an seinen acht Fingern auf, wie viele Länder seit seiner Jugend schon sozialistisch geworden waren. Seine beiden Hände reichten dafür nicht aus, und er fühlte sich bestätigt: »Das geht so weiter. Kannste Gift drauf nehmen.«
    Es war eine Sensation, als Richard eines Tages nicht zur Arbeit kam. Einer, der im Werk wohnte, einer, der dreißig Jahre lang, abgesehen von seinen Urlaubsreisen, keinen einzigen Tag gefehlt hatte, einer, der es ablehnte, jemals krank zu werden – was konnte der

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