Krokodil im Nacken
für einen Grund haben zu fehlen? Gegen Mittag eilte die Nachricht dann durch alle Hallen: Richards Frau war gestorben. Niemand, der nicht bestürzt war; die kleine, immer freundliche Lilo Diek hatten alle gekannt und alle gemocht. Auch Manne, der Richard an diesem Tag vertrat, erschrak und rechnete damit, mindestens drei, vier Tage, wenn nicht sogar eine ganze Woche lang Richards Bücher führen zu müssen. Diek jedoch war schon am nächsten Tag wieder da und kuckte alle mit rot umränderten Augen an, als nehme er ihnen übel, dass sie noch lebten und seine Lilo ihn verlassen hatte. Erst viele Wochen später konnte er über den Tod seiner Frau reden. »Sie ist einfach nicht mehr aufgewacht, eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht …«
Auch Pius, Mannes Vorgänger als rechte Hand Richard Dieks, der wegen seiner vielen »sozialistischen« Fehlzeiten von Richard zum dritten Mann in der Expedition degradiert worden war und später als Kohlenschipper in der Heizung eingesetzt wurde, sorgte dafür, dass es in der Expedition nie langweilig wurde. Der lange, hellblonde Einundzwanzigjährige mit dem Pfiffikusgesicht, der mit wirklichem Namen Burkhard Pabst hieß, war in allen Hallen, allen Büroetagen und in sämtlichen Treptower Kneipen und Tanzlokalen bekannt; ein bunter Hund, der zu allen freundlich war und dennoch auf eine gewisse, unbeabsichtigte Weise immer quer lag. Oft kam er nicht zur Arbeit, weil er im Westen Blut spenden oder Kohlen schippen war – beides für harte Westmark. Tanzte er dann am nächsten Tag an und entschuldigte sich mit irgendeiner Krankheit, grinste er dabei so heftig, dass jeder wusste, Pius hielt Lügen für blöd. Wer rechnen konnte, musste ihn doch verstehen.
Bei Pius konnte man sich nur auf seine Unzuverlässigkeit verlassen. Das sagte er selbst und darauf war er nicht wenig stolz. Warf Manne ihm vor, dass er seinetwegen die doppelte Arbeit leisten musste, verstand er ihn nicht. »Na und? Dann machst eben morgen du blau und ick schinder für dich mit.«
»Und wenn du morgen auch nicht kommst, steht Richard allein da.«
Ein Grinsen: »Dann wird eben woanders einer für ihn abgezogen.«
Brauchte Pius mal ein bisschen mehr Zeit für sich, klopfte er sich mit einem Löffel eine Stunde lang auf den Unterarm, bis eine prächtige Beule entstanden war, er eine Sehnenscheidenentzündung simulieren und sich für mindestens eine Woche krankschreiben lassen konnte. Nach Richard Diek: Sozialismus pur.
Das letzte Jahr auf der Insel – ein langer, unschöner Abschied. Er hatte sich verändert, der Manfred Lenz, war sich oft selbst nicht mehr sympathisch; spielte den Abgeklärten, den nichts mehr erschüttern konnte, stilisierte sich zum Lonesome Rider und trug nur noch Schwarz: schwarze Kordhosen, schwarzes Hemd, schwarzes Sakko.
Das letzte Heimfest, das er mit organisierte, wurde zur großen Manne-Lenz-Show: Manne in der Rolle des amerikanischen Reporters beim Rock-’n’-Roll-Festival in der Carnegie Hall, Manne in einem, von ihm selbst geschriebenen Kartenhai-Sketch, in dem er als ewiger Verlierer alle Lacher für sich hatte, Hanne Gottlieb und er mit dem satirisch umgetexteten Song Ich tanze mit dir in den Himmel hinein : »Ich möchte so gern mal Rockefeller sein.« Manne mit Hut und Mantel, Manne im Hawaiihemd, Manne mit der bunten Fliege.
Teil der Show war eine Quizveranstaltung. Wer gewann die warmen Socken? Manne Lenz. Alle Mädchen klatschten, die feuerrote Monika aber sagte böse: »Der müsste mal so richtig auf die Fresse fliegen.« Er vergaß es nicht. Diese Monika war erst seit kurzem in Oberspree, kannte ihn gar nicht – wieso wünschte sie ihm das? Glaubte sie etwa, dass er noch nie auf die Fresse gefallen war? Spielte er seine Rolle so gut?
Er ahnte, dass viele Jungen im Heim inzwischen nicht sehr viel anders dachten: Heimratsvorsitzender, Nachhilfelehrer, Bibliothekar, Dichter, Wandzeitungsredakteur – es war zu viel, was er machte. Und das Schlimmste daran war: Er tat das alles ja nur noch sehr lustlos, sehnte sich weg aus dem Heim, träumte von irgendetwas anderem, wusste nur nicht, worauf er hoffen durfte.
Hanne Gottlieb war inzwischen auf dem Weg zum Existenzialisten, nannte sich selbst einen »Exi« und zitierte ständig Albert Camus, der gesagt haben sollte, es komme nur darauf an, jeden Tag keinen Selbstmord zu begehen. Hanne: » Das ist es! Nur daran glaube ich noch, an nichts anderes.« Weitere neue Sprüche von ihm lauteten: »Der Mensch ist nichts anderes als
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