Krokodil im Nacken
Frau gefreut, die ganze Heimfahrt lang! Auf der Insel aber war die Hölle los. Seeler hatte ihn schon im Westen gesehen, tobte und schrie und nannte ihn ein schlechtes Beispiel für die anderen und einen Hochstapler, der der Welt etwas vorspiele, was er gar nicht sei. Und als er sich ein wenig beruhigt hatte, empfahl er ihm, sich eine Wohnung zu suchen. Er sei ja nun achtzehn, und er, Werner Seeler, hätte es nicht nötig, sich länger mit ihm rumzuärgern. Sollte er doch vor die Hunde gehen, wenn er unbedingt wollte.
Das war’s, damit hatte er bekommen, was er unbewusst wollte. Er fühlte sich von Seelers Worten nicht im Mindesten beleidigt, sondern fuhr schon am nächsten Tag zum Prenzlauer Berg, um sich von dem für ihn zuständigen Wohnungsamt eine Bleibe zuweisen zu lassen. Und in seiner letzten Nacht im Heim, mal wieder angetrunken, so feucht hatten sie Abschied gefeiert, stellte er sich im ersten Stock ans Fenster und pinkelte im hohen Bogen in den Hof hinunter. Auf die Blumenbeete und den Kiesweg. Wie um alles aus sich herauszuschiffen.
15. Die halbe Stadt
H eiligabend 1961. Zurück im Prenzlauer Berg, Dunckerstraße 12, dritter Hinterhof, Parterre rechts. Stück Pappe an der Tür: Manfred Lenz. Hinter der Tür Zimmer und Küche, das Klo im Treppenhaus, die Spülung zugefroren. Ein Schicksal, das in diesem kalten Winter auch die Wasserleitung immer wieder mal erfuhr. Brauchte Lenz Wasser, klingelte er mit einem Eimer in der Hand im Vorderhaus. Dort funktionierte die Wasserleitung noch. Stand der Eimer eine Nacht in seiner Küche, musste er die Eisklumpen mit dem Schraubenzieher herauspicken, in eine Kasserolle legen und auf dem Gasherd auftauen. Ein Eskimoleben!
In der Stube fütterte er den Ofen, bis er bullerte, einen Meter vom Ofen entfernt war alles eiskalt. Es stand auch nicht viel drin in dem mittelgroßen Raum, den er sich mit einer blassen Blumentapete und vielen mit Reißzwecken an die Wände gehefteten Theaterfotos verschönt hatte, nur ein alter Schrank mit Vitrine – für Bücher –, eine schon sehr gebrauchte Couch, ein Couchtisch, kein Stuhl.
Den Schrank hatte er sich liefern lassen, die Couch auf Anzeige hin gekauft und mit Eddie quer durch die Stadt getragen. Wenn sie nicht mehr konnten, hatten sie sich zur Belustigung der Passanten mitten auf dem Bürgersteig auf die Couch gesetzt und erst mal eine geraucht. Die erste Nacht hatte er dann auf der blanken Couch geschlafen, ohne Bettzeug, in Kleidern, allein mit dem Mantel zugedeckt. Zuvor aber war er spazieren gewesen, bis weit nach Mitternacht. Die ganze Prenzlauer Allee war er hochgewandert, bis hin zum Alexanderplatz und wieder zurück; so wie er auch jetzt noch jeden Abend lange durch die Straßen lief.
Es war alles wieder wie in jenen Tagen nach Mutters Tod, er musste sich selbst am Kragen packen, um nicht Schiss vor dem eigenen Mut zu bekommen. Und das konnte er noch immer am besten, wenn er lief.
Weil seine Wohnung nur wenige hundert Meter vom ehemaligen Ersten Ehestandsschoppen entfernt lag – ein Schuh-Express war in die Räume eingezogen –, wanderte er oft durch sehr vertraute Straßen. An erleuchteten Schaufenstern und spärlichen Lichtreklamen vorüber oder an der im Mondlicht schwarz glitzernden Spree entlang. Betrat er eine der umliegenden Kneipen, stieß er nicht selten auf bekannte Gesichter. Nur Mutters Stammtischler, die fand er nicht mehr; von einigen hieß es, sie seien gestorben, von anderen, sie seien fortgezogen.
Es trieb ihn aber auch durch Stadtteile, die er nicht so gut kannte. Die Stadt war groß, es gab viel abzulatschen für einen, der nicht stillsitzen konnte. Und dabei stand ihm doch nur noch die halbe Stadt zur Verfügung – vier Monate zuvor war die Mauer gebaut worden. In den Wedding, nach Kreuzberg und Charlottenburg kam er nicht mehr. Nur der Rundfunk verband ihn noch mit der anderen Hälfte der Stadt; der West-Rundfunk, der immer wieder darüber informierte, wie die Abschottung der einen Stadthälfte von der anderen vor sich gegangen war und wie die Lage sich jetzt darstellte.
Am 13. August morgens gegen ein Uhr hatten Volkspolizisten, Kampfgruppenmänner und Volksarmisten damit begonnen, die Grenze abzuriegeln. Alle Haupt- und Nebenstraßen, die von Ost nach West führten, waren gesperrt, alle Grenzbahnhöfe geschlossen und die entsprechenden U- und S-Bahn-Linien unterbrochen worden. Ein radikaler Schnitt mitten durch eine lebendige Stadt; eine »erfolgreiche Operation«, von der noch immer
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