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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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niemand wusste, wie sie am Ende ausgehen würde.
    Kamen keine Nachrichten, wurde öfter ein mit russischem Akzent gesungener Schlager gespielt; er begann mit der Frage: »Meint ihr, die Russen wollen Krieg?« Natürlich lautete die Antwort: Nein. Dennoch hätte es Krieg geben können in den ersten Wochen nach dem 13. August. Immer wieder Drohungen der einen Seite gegen die andere, immer wieder der Hinweis auf die Stärke des eigenen Militärs. Und im Oktober hatten sie sich dann am Checkpoint Charlie gegenübergestanden, je zehn amerikanische und zehn russische Panzer. Sechzehn Stunden lang hatten sie die Rohre aufeinander gerichtet, geladen mit scharfer Munition. Die Welt hielt den Atem an. Eine Floskel, aber sie traf zu. Ein Dritter Weltkrieg wurde befürchtet, ein Atomkrieg sogar, ein Krieg, der alles vernichten konnte; ein weltweites Hiroshima.
    Die Amerikaner aber blieben auf ihrer Seite der Grenze; nur WestBerlin wollten sie verteidigen, OstBerlin gehörte nicht zu ihrem Hoheitsbereich. Und es war gut, dass sie nicht die Befreier spielten wollten; alles war gut, was einen Dritten Weltkrieg verhinderte.
    An jenem Sonntag, den 13., an dem es passierte, war Lenz nicht in der Stadt gewesen. Es war Ferienzeit, die Jungen von der Insel zelteten am Greifswalder Bodden. Tagsüber lagen sie in ihren Sandburgen oder tummelten sich in der Ostsee, abends gingen sie tanzen. Sie lernten Mädchen kennen und erlebten Liebschaften, alles, wie es sich gehörte. Hanne Gottlieb war es dann, der ihnen die Ferienstimmung verdarb, als er an jenem sonnenstrahlenden Sonntagvormittag an seinem kleinen Transistorradio drehte und plötzlich wie von der Tarantel gestochen hochfuhr: »Diese Misthunde! Sie haben die Grenze abgeriegelt. Jetzt kann ich meinen Vater nicht mehr besuchen.«
    Sie lagen in ihrer Sandburg, blinzelten in die grelle Sonne und wussten überhaupt nicht, worum es ging. Und als Hanne ihnen alles erklärt hatte, rissen sie nur blöde Witze: Eine Stadt war keine Torte, die konnte man doch nicht einfach in der Mitte durchteilen. Und meinte Hanne denn wirklich, sein Vater würde ihn irgendwann nach Amerika holen? Der hatte dort doch längst drei neue Kinder fabriziert.
    Eine Woche später standen sie an der Schlesischen Brücke, beobachteten die Mannschaftswagen der »bewaffneten Organe« – Volksarmisten und die in Blaumänner gekleideten, meist schon recht dickbäuchigen Kampfgruppler mit ihren Kalaschnikows auf den Rücken, die immer neuen Stacheldraht ausrollten – und spotteten weiter: Dieser mickrige Zaun sollte ’ne »Mauer« sein? Damit sollten Kriegstreiber aufgehalten werden? Ein einziger amerikanischer Panzer und der ganze antifaschistische Schutzwall war platt wie ’ne Flunder.
    Nein, noch hatten sie keine Angst! So blöd konnte doch niemand sein, einen Krieg zu beginnen, nur weil die OstBerliner nicht mehr in den Westen und die WestBerliner nicht mehr in den Osten durften.
    Allein Ete Kern hatte Bedenken.
    »Die haben schon wegen ’ner ganz anderen Kacke ’n Krieg begonnen.«
    »Aber da gab’s noch keine Atombomben.«
    Ein Atomkrieg war unvorstellbar. Den konnte keiner gewinnen, der würde den Untergang der Welt bedeuten, also würde es ihn nicht geben. Und ein Krieg der Supermächte würde doch in jedem Fall ein Atomkrieg werden, oder etwa nicht? Doch dann krochen sie immer öfter in ihre Koffer- und Transistorradios und bekamen mit, wie in Ost und West gegeneinander polemisiert und gehetzt wurde, und wurden immer unsicherer. Was, wenn es nun doch bald losging? War dann alles zu Ende? Gute Nacht, Marie, außer Spesen nichts gewesen?
    Kein Tag, an dem es sie nicht zur Schlesischen Brücke oder zu anderen Grenzübergängen zog. Sie beobachteten, wie die Stacheldrahtverhaue mit Betonpfeilern abgestützt wurden, wie Spanische Reiter aufgestellt und Betonschwellen ausgelegt wurden und erörterten immer wieder dieselbe Frage: Wann sie wohl, wenn es keinen Krieg gab, in ihre zweite Heimat, die Kinos und Läden rund ums Schlesische Tor, zurückdurften. Noch vor Weihnachten, in einem Jahr, in zwei Jahren?
    Sie spürten, dass sie Geschichte miterlebten, und fanden die Aufregung um sie herum trotz aller Besorgnis auch irgendwie spannend. Andererseits begriffen sie von Tag zu Tag deutlicher, gegen wen diese Mauer sich tatsächlich richtete und dass in der Hauptsache sie es waren, denen etwas genommen wurde. Ja, und dann kam für Manne Lenz zu dem allgemeinen Verlust bald noch ein sehr privater hinzu.
    Es war während

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