Krokodil im Nacken
bewunderte ihn: Wie ruhig und gelassen Ete die letzten beiden Wochen Lehrzeit absolvierte, während doch die Grenze zum Westen immer dichter ausgebaut wurde, sodass die geplante Flucht immer größere Risiken barg! Tag für Tag sahen sie gemeinsam nach, ob die Regenrinne noch da war. Würden die Grenzer, die das Gebäude bewachten, die einfach vergessen? Hatten sie sich nie an Regenrinnen in Mädchenzimmer hochgehangelt?
Am letzten Augusttag war es dann so weit: Ete bekam seinen Gesellenbrief. Nach der Feier trafen sie sich am Werktor und wanderten durch den sommerlich grünen Treptower Park, um bei Zenner im Garten ihr Abschiedsbier zu trinken. Sie wussten beide nicht, was für Gesichter sie machen sollten. Ete sagte nur, dass er am Abend seine wichtigsten Sachen zusammenpacken und sich tags darauf mit seinem Seil im Werk einschließen lassen wolle. Er habe sich schon einen Bus ausgekuckt; der Motor sei ausgebaut, die Motorhaube habe er so präpariert, dass er darunter verschwinden und sie von innen zuhaken könne. Kurz nach Mitternacht wollte er sein Glück versuchen.
Manne, mit traurigem Spott: »Haste eigentlich keine Angst, dass ich dich längst verraten haben könnte?«
Ete: »Nee.«
Sie kannten sich seit vier Jahren, zwei davon hatten sie in einem gemeinsamen Zimmer zugebracht; sie wussten mehr voneinander als die meisten Brüder.
Nachdenklich lächelten sie einander zu und schwiegen. Was hätten sie denn jetzt noch sagen sollen? Es gab nichts mehr zu bereden. Als sie sich dann trennten, gaben sie sich nur die Hand – »Mach’s gut!« – und fragten sich wohl beide, ob sie sich jemals wiedersehen würden. Doch blickten sie sich dabei nicht an. Nahmen sie einer dem anderen übel, dass auf diese Weise ihre Freundschaft zu Ende ging?
Dass Etes Flucht gelungen war, erfuhr Manne von Seeler. Der Pankower Heimleiter hatte auf der Insel angerufen; er wusste ja, dass der Kern noch immer Kontakt zur Insel hatte. In Pankow vermutete man, dass auch auf der Insel Jungen verschwunden waren. Seeler aber konnte stolz berichten, dass er noch alle Küken im Nest hatte. Er war auch nicht sehr zornig über Etes Flucht, der Pädagoge Werner Seeler, hatte diese Tat ihm doch bewiesen, dass er auf das richtige Pferd gesetzt hatte, als er entschied, Manfred Lenz im Heim zu behalten und nicht Erich Kern. Er lobte sich für diese Weitsicht, und Manne bedauerte heftig, nicht doch mit Ete mitgegangen zu sein.
Natürlich wollte Seeler wissen, ob er denn nichts von dem Fluchtplan seines besten Freundes gewusst hatte. Mannes Antwort: Ete sei ein wirklicher Freund gewesen; wie hätte er ihn da zum Mitwisser machen dürfen?
»Dann weißt du also nicht, wie, wann und wo er unsere Republik verlassen hat?«
»Nein. Da gibt’s tausend Wege.«
»So? Welche tausend kennst du denn?«
»Gar keinen. Aber es hauen doch jeden Tag welche ab. Also muss es viele Wege geben.«
Ein Genuss, dem Seeler diese Wahrheit unter die Knollennase zu reiben! Seeler, der sich, seit es die Mauer gab, für einen Sieger der Geschichte hielt; Seeler, der nicht zugeben wollte, aus welch traurigen Gründen dieser »Schutzwall« notwendig geworden war; ein paar Kratzer in seinem Lack konnten nicht schaden.
Ein prüfender Blick. »Dann hast du also auch vom Flutgraben noch nie etwas gehört?«
»Doch – natürlich! Da sind ja schon jede Menge abgehauen. Wird jedenfalls erzählt. Aber da gibt’s wohl kein Rüberkommen mehr. Ist ja inzwischen alles zugemauert worden.«
Ärgerlich runzelte Seeler seine Polizeimajorsstirn. »Dann will ich dir mal sagen, wie er’s gemacht hat, dein lieber Freund Erich. Er ist die Regenrinne hochgeklettert, hat ein Seil am Schornstein festgebunden und sich daran heruntergelassen. Und beinahe wäre er dabei in den Tod gestürzt – weil der Schornstein nämlich schon ein bisschen mürbe war. Und wäre das passiert, wäre jeder, der von der Sache wusste, mitschuldig geworden.«
Sagte es und starrte ihm ins Gesicht.
Manne hielt sie dennoch durch, diese Das-hat-doch-alles-nichts-mit-mir-zu-tun-Miene. »Seine Sache, wenn er solche Scheiße baut!«
Sie führten das Gespräch vor der Tür zum Heimleiterbüro, standen da und sahen sich an, und es kostete Manne viel Kraft, Seelers forschenden Blick auszuhalten. Doch dann kam der Heimleiter ihm plötzlich zu Hilfe, indem er die Tür öffnete und ihn vor seinen Schreibtisch schob. »Setz dich!« – Polizeitaktik: Wo Drohungen nicht halfen, brachte vielleicht Freundlichkeit den
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