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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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einer ihrer heimlichen Pausen im Oberdeck eines zur Reparatur bereitstehenden Doppelstockbusses, als Ete ihm verriet, dass er nicht länger bleiben wolle. Nur den Gesellenbrief würde er noch in Empfang nehmen, dann sei er weg, in den Westen hinüber. Ob er, Manne, sein bester Freund, nicht mitkommen wolle?
    »Und wie willste rüberkommen?«, fragte er erst mal nur ganz überrascht. Es wurden ja inzwischen sogar schon die Einstiegsschächte ins Kanalisationssystem durch Polizeistreifen überwacht.
    Ete grinste nur und deutete mit dem Kopf auf das Dach des Betriebsgebäudes, das direkt an den Flutgraben grenzte, der schon zu WestBerlin gehörte. »Ganz einfach, abends einschließen lassen, Seil um den Schornstein und ab in die Brühe!«
    Auf ähnliche Weise waren schon viele abgehauen. Allein in der ersten Woche nach der Grenzabriegelung etwa zwanzig Leute, wurde gemunkelt. Sie waren aus den nur notdürftig mit Brettern vernagelten Fenstern in den Flutgraben hinuntergesprungen und die paar Meter in den Westen hinübergeschwommen. Manche sollten von drüben sogar noch gewinkt haben. Jetzt aber wurden diese Fenster zugemauert; sie konnten die Maurer von ihrem Bus aus beobachten. Sie pfiffen vor sich hin, die Männer in den hellen Arbeitsjacken, machten viele Zigarettenpausen und schienen auch sonst ganz vergnügt zu sein, obwohl sie doch von Grenzern bewacht wurden.
    Manne: »Wenn sie die Fenster zumauern, werden sie auch alle Aufgänge zum Dach verschließen.«
    Ete: »Na und? Solange sie die Regenrinnen nicht abreißen, kommen wir auf jeden Fall da hoch. Oder biste etwa nicht mehr in Übung?«
    Der Freund rechnete damit, dass sie das Unternehmen zu zweit in Angriff nahmen; zwar hatte er gefragt, doch glaubte er zu wissen, welche Antwort er bekommen würde.
    Manne zögerte. Ging er in den Westen, nahm er Partei gegen den Osten; blieb er, nahm er für nichts und niemanden Partei. Er gehörte ja hierher, war hier aufgewachsen. Und wie sollte er denn Partei für den Westen nehmen? Es hatte ihm nicht gefallen, wie die Zeitungen dort über die hohen Flüchtlingszahlen jubelten, damals, als die Grenze noch offen war; »Abstimmung mit den Füßen« hatten sie die Völkerwanderung von Ost nach West genannt … Richtig erschrocken war er, als sie in der Wochenschau die überfüllten Notaufnahmelager zeigten; zum Schluss waren ja jeden Tag fast zweitausend Leute abgehauen, mit Koffern und Kindern, mit all ihrem Können und ihrer Arbeitskraft. Darunter viele dringend benötigte Ärzte, Ingenieure und Wissenschaftler. Insgesamt sollten es nun schon drei Millionen sein, die auf diese Weise die Seiten gewechselt hatten.
    »Komm doch mit!«, bat Ete, der nun langsam etwas ahnte. »Meine Schwester hilft uns weiter. Die ersten Tage können wir bei ihr auf dem Dachboden schlafen, später gehen wir dann nach Hamburg oder Düsseldorf. Da wollteste doch immer schon mal hin.«
    Wie gern hätte Manne Etes Angebot angenommen! Ete hatte sich einen solchen Freundschaftsbeweis verdient, und würde er denn jemals wieder einen Freund wie Ete finden? Zu seiner eigenen Verwunderung jedoch schüttelte er den Kopf. Er wollte nicht weg, konnte es einfach nicht. Er fand da drüben vieles nicht sympathisch. Da gab es ja immer noch die alten Nazi-Richter – nicht einem einzigen von ihnen war nach dem Krieg der Prozess gemacht worden –, da gab es noch die alten Lehrer und jede Menge Politiker, die unter Hitler schon dabei waren. Es gab die Treffen der alten SS-Kameraden und die heimwehkranken Landsmannschaften der Sudetendeutschen und Schlesier, die sich nicht damit abfinden wollten, ihre Heimat verloren zu haben. So manches an dieser Bundesrepublik machte ihm Angst. Wozu also weggehen? In dem Staat, in dem er lebte, gefiel ihm vieles nicht – mit dem auf der anderen Seite ging’s ihm nicht anders.
    Er sagte das, obwohl er wusste, dass Ete ihn nicht verstehen würde. Für Ete war die Sache klar: Hier ließ man ihn nicht leben, wie er wollte, also ging er weg. Drüben war zwar auch nicht alles perfekt, aber dort hatte er wenigstens seine Freiheit, stand ihm die ganze Welt offen. Weshalb einer hier ausharren wollte, begriff er nicht.
    Onkel Ziesche hatte mal gesagt, es gebe Probleme, über die nur die nicht den Verstand verlieren, die keinen haben; in den Tagen nach diesem Gespräch mit Ete hatte Manne manchmal das Gefühl, seinen längst verloren zu haben. Ihn schmerzte, dass Ete wegwollte – gleichzeitig aber drückte er dem Freund die Daumen und

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