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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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für Tag, von morgens bis abends, die Zelle teilen musste?
    Noch einmal blickte er sich in dem großen Raum um, dann setzte er sich auf seine Pritsche, nahm vorsichtig eine seiner Selbstgedrehten aus der Jackentasche, zündete sie an und inhalierte tief. Weshalb war er denn so aufgeregt? Hatte er nicht rausgewollt aus der Einzelhaft? Aber wie so eine Verlegung vor sich ging! Wirst wie ein Zierfisch am Schwanz gepackt und aus deinem kleinen, dir inzwischen schon vertrauten Aquarium in dieses riesige, kalte, dir so fremde Schwimmbecken geworfen …
    Er hatte die Zigarette noch nicht aufgeraucht, da klirrten die Riegel und rasselte das Schloss und ein alter Mann im viel zu großen, angeschmuddelten, weinroten Rollkragenpullover wurde in die Zelle geführt. Als er Lenz bemerkte, fuhr er erschrocken zurück. Der Läufer, der ihn gebracht hatte, ein Unteroffizier, mit dem Lenz es noch nicht zu tun bekommen hatte, ein engäugiger, blonder Bauernburschentyp, war ebenfalls verwirrt. »Meldung!«, blaffte er Lenz an.
    »Zweihundertzwölf-Zwo.«
    »Sind Sie eben erst hierher verlegt worden?«
    Lenz juckte es zu antworten, nein, er sei durch den Kamin gekommen, doch dann nickte er nur.
    Der Bauernbursche sah ihn noch einen Augenblick lang nachdenklich an, dann rasselte wieder der Schlüssel und die Riegel klirrten.
    »Manfred Lenz.« Er reichte dem Alten die Hand.
    »Breuning. Moritz Breuning.«
    Er musste schon über sechzig sein, dieser Moritz Breuning. Nase und Wangen waren von rötlich blauen Fasern durchzogen, unter seinen noch immer verstört blickenden Augen hingen dicke Tränensäcke, auf der Halbglatze waren die ersten Altersflecken zu erkennen.
    »Unter anderen Umständen hätte ich gesagt: Sehr angenehm!« Lenz lächelte dem Alten im Rollkragenpullover freundlich zu, und der lächelte – erleichtert, dass er nicht mit einem Menschenfresser zusammengelegt worden war – ebenso freundlich zurück. Ein Mund voller Goldzähne wurde sichtbar und Lenz verspürte Antipathie: Dieses Lächeln war falsch, wirkte anbiedernd und Abstand wahrend zugleich. Ja, und dann kam sie auch schon, die zögerliche Frage: »Sind Sie … politisch?«
    Beinahe hätte Lenz geantwortet: »Natürlich.« Er saß bei der Stasi ein, nicht bei der Kriminalpolizei. Doch er beherrschte sich, lächelte weiter und sagte nur: »Ja.«
    »Ich nicht.« Das kam so eilfertig und selbstgefällig, als hätte Lenz gestanden, an einer todbringenden Krankheit zu leiden.
    »Also sind Sie Krimineller?« Er wusste bereits, dass er mit diesem Zellennachbarn nicht klarkommen würde.
    »Wo denken Sie hin?« Jetzt war er empört, der alte Mann, der in früheren Zeiten mal breiter und schwerer gewesen sein musste, wie der ihm viel zu große Pulli und die schlaffe Haut verrieten.
    »Und weshalb sind Sie hier? Ein Irrtum?«
    »So … kann man es nennen.«
    »Sehr bedauerlich.« Lenz begann, seine Sachen zu ordnen. Die Sehnsucht nach seiner Einzelzelle wurde stärker.
    Breuning sah ihm zu, zögerte, fragte dann aber doch: »Sie wollten wohl in den Westen?«
    Lenz nickte nur.
    »War das nicht gefährlich?«
    »Nicht sehr.«
    Pause. Breuning sinnierte. Dann kam der nächste Klops: »Ich kannte mal ein hohes Tier bei den Liberalen, der hat immer gesagt, wenn ich ’nen Vogel hab und der sitzt im Käfig, ist er selbst schuld, wenn er nicht fortfliegt, solange die Tür offen steht. Gegen die Tür anzufliegen, wenn sie bereits zu ist, mache nicht viel Sinn.«
    »Sehr liberal, der Mann!« Lenz hatte sein bisschen Zeug verteilt, setzte sich an den kleinen, kunststoffbezogenen Tisch vor seiner Pritsche und rauchte die nächste Selbstgedrehte. Wie sollte er sich denn an sein selbst auferlegtes Tagesquantum Zigaretten halten, wenn er solche Klugscheißereien zu verarbeiten hatte?
    Breuning nahm einen von den Äpfeln, die er auf dem Fenstersims gegenüber seiner Pritsche aufgereiht hatte, und setzte sich neben ihn. »Nicht, dass Sie mich missverstehen!«, sagte er, nachdem er in den Apfel gebissen hatte. »Ich hab nichts gegen Politische. Hab mich wohl nur ein bisschen missverständlich ausgedrückt … Bin im Januar schon ein Jahr hier … und es ist das erste Mal, dass ich mit jemandem zusammengelegt werde.« Er wischte sich die Augen. »Vielleicht haben se’s ja getan, weil bald Weihnachten ist … und sie befürchten … übermorgen ist ja schon der erste Advent.«
    Könnte dieser Breuning sich was antun? Hatten sie ihn, Lenz, mit ihm zusammengelegt, damit er ihn vor einem Suizid

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