Krokodil im Nacken
wenn man in Armut und Not lebte. Nur war dieser Traum in der Realität ja längst vergewaltigt worden und wurde auch jetzt noch jeden Tag den »Realitäten angepasst«, und das an vielen Orten der Welt. Geschichte und Gegenwart der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten bewiesen das. Unsägliche Verbrechen waren begangen worden im Namen dieses Traums. Du aber, lieber Knut, der du dich mir so überlegen dünkst, willst nichts wissen von den Abermillionen Opfern dieses längst ausgeträumten Traums, plapperst irgendwas von »Hass«. Die Dummen sind entschuldigt, die Miesen des Nachdenkens nicht wert – du aber bist kein Dummer und nicht mal ein besonders Mieser. Es wäre deine verdammte Pflicht, wenigstens mal darüber nachzudenken, ob nicht auch die andere Seite ein paar »unumstößliche Wahrheiten« in der Tasche haben könnte.
Der Leutnant hatte zu Ende geschrieben, schüttelte seine Schreibhand aus und hob den Blick. »Also es gibt nichts in unserem Land, das Ihnen imponiert?«
Lenz zuckte die Achseln. »Mir imponieren alle diejenigen, die ihren Irrweg nicht bis zu Ende gegangen sind. Dazu gehört sicher besonders viel Mut, sich einzugestehen, jahrelang in die falsche Richtung gerannt zu sein.«
»Na, dann will ich nur hoffen, dass auch Sie eines Tages den Mut aufbringen, sich das einzugestehen.« Froh über die Gelegenheit zu dieser Retourkutsche griff Knut zum Telefon. »Machen wir Schluss für heute. Ich will nicht, dass Ihr Mittagessen kalt wird.«
Lenz lächelte nur. Er hatte gesagt, was zu sagen war. Jetzt hieß es hoffen, dass daraus die richtigen Schlüsse gezogen wurden.
Heiligabend! Der Tag, vor dem sie sich gefürchtet hatten. Auf dem Sims unterhalb des linken Glasziegelfensters stand ein erzgebirgisches Räuchermännchen, das Coswig mit seinem Weihnachtspaket erhalten hatte, Breunings Schränkchen war mit Obst und Süßigkeiten angefüllt, in der Freistunde fielen ein paar Schneeflocken. Grund genug für Hahne, sich zu ärgern. »Sonst schneit’s Heiligabend nie.«
Zurück in der Zelle setzte Coswig seinen Spaziergang fort und summte Weihnachtslieder vor sich hin. Bis Hahne explodierte: »Willste uns ganz und gar verrückt machen?«
Coswig versprach, ab sofort nur noch Faschingslieder zu summen, und wanderte weiter in der Zelle auf und ab. Stumm.
Breuning auf seiner Pritsche seufzte in einem fort, Lenz versuchte, sich mit einem Buch über Selbsterfahrungsversuche berühmter Ärzte abzulenken. Doch immer wieder standen Silke und Michael vor ihm. Wie würden sie diesen Abend überstehen? Er selbst als Dreizehnjähriger, wie er in der Küche von Renis Eltern saß und heulte … Was war ihm an jenem ersten Heiligabend ohne die Mutter elend zumute! Sillys und Michas Eltern waren noch am Leben; doch vielleicht schmerzte das noch viel tiefer? Der Tod war etwas Unabwendbares, mit dem zu hadern lohnte nicht; bei aller Trauer hatte er das damals schon gewusst. Eltern, die noch lebten, hatten bei ihren Kindern zu sein, in der Weltsicht von Kindern kamen nur schlechte Menschen ins Gefängnis …
Zu Mittag gab es Nudelsuppe; am Abend, so Hahne und Breuning, die nun schon ihr zweites Weihnachtsfest in U-Haft verbrachten, würde es Bockwurst mit Kartoffelsalat geben, am ersten Feiertag Braten mit Rotkohl. Aussichten, die nur Breuning mit Vorfreude erfüllten; ein Talent von ihm, beim Gedanken an sein leibliches Wohlergehen alle Sorgen für ein Weilchen zu vergessen.
Lenz war noch bei der Mittagszigarette, da kam Spartakus, ein etwa ein Meter neunzig großer, muskulös wirkender Unteroffizier, und winkte ihn heraus.
Er folgte dem blonden Riesen nur zögernd. Heiligabend Vernehmung? Der Leutnant hatte ihn doch längst ins »Weihnachtsfest« verabschiedet. Oder war das nur wieder einer von Knuts Versuchen, ihn auf dem falschen Fuß zu erwischen, setzte er an einem Tag wie diesen auf Reue und Sentimentalität?
Es ging in den Vernehmertrakt, doch machte Spartakus nicht vor der üblichen Tür Halt. Erst ein paar Türen weiter wies er Lenz an, die vorgeschriebene Haltung einzunehmen, klopfte, schob den Kopf durch den Türspalt und ließ ihn eintreten.
Lenz machte ein, zwei Schritte – und blieb stehen, als wäre er gegen eine Wand geprallt: Hannah! Sie saß an einem mit blauem Fahnentuch bedeckten Tisch, vor ihr zwei bunte Teller mit Keksen, Obst und Bonbons, eine Kaffeekanne, Tassen, Teller, ein bereits angeschnittener Stollen und eine durch den Luftzug heftig ins Flackern gekommene Kerze. An der
Weitere Kostenlose Bücher