Krokodil im Nacken
die Busse bestiegen …
Nein, er durfte nicht mehr taktieren! Wer ist wer, wollten sie wissen? Sie sollten es erfahren. Es gab kein Zurück mehr, schlimmer, als es war, konnte es nicht mehr werden; sie sollten endlich begreifen, dass die Familie Lenz für sie verloren war.
Er fühlte sich erleichtert. Von jetzt an würde alles so viel einfacher sein. Und der Leutnant sah ihm diese Erlösung an, wusste aber nicht, worauf sie zurückzuführen war. Verwundert schüttelte er den Kopf: Die große Hoffnung auf Entspannung durch Brandt! Begriff Lenz denn nicht, dass die so genannte neue Ostpolitik nur die wahren, nach wie vor revanchistischen Ziele der BRD verschleiern sollte? Rosa Tünche auf braunes und schwarzes Gedankengut, nichts anderes. »Ob da drüben nun die SPD an der Macht ist oder die CDU, in Wahrheit regiert das Kapital. Der Volkswille bleibt Fiktion.«
Der Volkswille! Jetzt kam er ihm auch noch mit dem Volkswillen, dieser brave Vertreter eines Staates, der sein Volk fürchtete, kontrollierte, überwachte und einsperrte. Lenz verspürte Wut – und verkniff sie sich nicht mehr. Was er denn überhaupt von ihm wolle, fragte er höhnisch. Die Bundesrepublik sei nicht sein Traumland, er wisse, dass auch dort nicht alles Gold sei, was glänze. Seine Frau und er wollten ja auch gar nicht unbedingt »in die Bundesrepublik«, sie wollten nur dort weg, wo sie nicht länger leben konnten. Die Bundesrepublik habe für sie nur den Vorteil, dass seine Frau von dort komme und dass dort auch Deutsch gesprochen werde.
»Aha!« Der Leutnant tat, als hätte Lenz soeben ein überraschendes Eingeständnis gemacht, und notierte sich diese Worte. Als er fertig war, blickte er teils empört, teils neugierig auf. »Und weshalb können Sie bei uns nicht mehr leben?«
Sag es ihm, Manne! Wer brechen will, muss ganz brechen. »Weil man uns hier nicht erlaubt, so zu leben, wie wir leben wollen. Weil es in diesem Staat nicht die Freiheit gibt, die wir uns wünschen. Weil wir nicht länger Leibeigene einer Partei sein wollen, der wir nicht mal angehören.«
Worte, die den Leutnant überraschten und verwirrten. Dass dieser Lenz so dachte, hatte er sich vielleicht vorstellen können, aber nicht, dass er es aussprach, noch dazu an einem Ort wie diesem. »Was haben Sie da eben gesagt?«
Lenz nahm einen Zug aus seiner Zigarette, dann sagte er noch einmal, dass ihm die Auswüchse des Kapitalismus bekannt seien. Sie rechtfertigten die Suche nach einer Alternative. Nachdem er nun aber über zwanzig Jahre in der DDR gelebt habe, wisse er, dass sie für seine Frau und ihn keine sei. Wäre es da nicht für alle Seiten das Einfachste und Beste, wenn sie und ihre Kinder weggingen? Dann störten sie wenigstens nicht mehr.
Einen Moment lang sah es aus, als wollte Knut aufbrausen. Doch dann riss er sich zusammen und notierte erst mal auch diese Worte. Anschließend fragte er Lenz mit kühlem Gesicht, ob er die DDR vielleicht hasse.
Eine Frage, die verriet, wie hilflos der Leutnant in diesem Moment war.
»Ich hasse niemanden.« Lenz fühlte sich plötzlich stark. »Erst recht kein Land voller Menschen, die ja nichts dafür können, dass sie ausgerechnet in diesem Land leben. Außerdem macht Hass hässlich und ich bin nun mal eitel.«
Der Leutnant, ärgerlich: »Sie glauben also, dass das kapitalistische System die Zukunft der Menschheit ist?«
Das glaubte Lenz nicht, das befürchtete er viel eher. Doch sollte er das Knut verraten? »Wer weiß denn heute schon, was morgen ist?«
Auch das schrieb er mit, der Genosse Leutnant, dann sinnierte er mürrisch: »Wenn man Sie so reden hört, könnte man zu dem Schluss kommen, dass Sie überhaupt nicht wissen, was Sie wollen.«
»Was ich will, ist ganz einfach: Ich will mit meiner Frau und meinen Kindern leben dürfen, wie und wo wir gern möchten. Und deshalb bitten wir darum, ausreisen zu dürfen. Viel eindeutiger geht’s doch gar nicht.«
Knut notierte auch das und Lenz studierte ihn stumm. So ein Blödsinn – er, die DDR hassen! Etwas anderes konnten sie sich offensichtlich nicht vorstellen, diese Stasi-Jünger – lieben oder hassen! Dass man sie und ihr System nur hinter sich zurücklassen und sie weiter nach ihrer Fasson selig werden lassen wollte, passte nicht in ihre marxistisch-leninistisch geschulten Köpfe. Dabei hatte doch gerade er immer gut nachvollziehen können, was Menschen zu Kommunisten machte. War ja ein schöner Traum, diese Hoffnung auf eine bessere, gerechtere Welt. Vor allem,
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