Krokodil im Nacken
getan hatten, wenn sie nebeneinander in ihren Betten lagen, um sich vor dem Einschlafen noch einmal zärtlich zu berühren. Vielleicht suchte sie in diesem Augenblick ja ebenfalls seine Hand.
Tags darauf, gleich nach dem Frühstück, wurde er nach längerer Zeit mal wieder »zum Gebet« geholt, wie Hahne die Vorführungen beim Vernehmer nannte. Das verwunderte Lenz. Sein Fall war doch abgeschlossen; was wollten sie noch von ihm, ihm die Anklageschrift überreichen?
»Wie geht’s denn so?« Knut machte mal wieder auf gute Laune.
»Bestens.« Wenn die Wände in der Magdalena tatsächlich Ohren hatten, hatte der Leutnant gut lachen: Sie haben doch immer nach einem Rechtsanwalt verlangt, nun, sind Sie jetzt glücklich, hat Ihnen diese Begegnung viel gebracht?
»Kommen Sie mit Ihren Mithäftlingen denn klar?« Der Leutnant schob ihm die Zigaretten hin.
»Ja.«
»Na, dann können Sie ja zufrieden sein. Manchmal gibt’s Reibereien.« Er stand auf, der Knut, trat ans Fenster und blickte hinaus, als würde ihn an diesem düsteren Dezembertag vor allem das Wetter interessieren. Lenz war neugierig, ob nun Fragen nach seinen Mitgefangenen kommen würden, den Leutnant aber bewegte etwas anderes. »Sie erhalten doch die Zeitung«, sagte er plötzlich, ohne sich umzudrehen. »Was sagen Sie denn zu alldem, was jetzt in Westdeutschland so passiert?«
»Was meinen Sie damit?«
»Na, zum Beispiel die letzte Wahl.«
Lenz wusste, dass die SPD die letzte, vorgezogene Bundestagswahl ziemlich hoch gewonnen hatte; die Unionsparteien waren zurückgefallen, die Freien Demokraten mit etwas über acht Prozent durchs Ziel gegangen. Also eine klare Mehrheit für die sozial-liberale Koalition, ein Sieg für Brandts Politik der kleinen Schritte; gute Aussichten für eine weitere Ost-West-Entspannung. Hahne meinte sogar, dieses Wahlergebnis könne für alle Ausreisekandidaten nur von Vorteil sein; je besser die beiden deutschen Staaten miteinander auskämen, desto reibungsloser funktionierten ihre humanitären Geschäfte. Nun diese Frage! Was hatte sie zu bedeuten?
Der Leutnant setzte sich wieder, bewegte seine Papiere hin und her. »Freuen Sie sich so sehr, dass es Ihnen die Sprache verschlagen hat?«
»Ich glaube, über dieses Wahlergebnis freut sich halb Europa.«
»So?«
»Ja.«
»Erhoffen Sie sich denn von der SPD irgendwelche weit reichenden Veränderungen im politischen Miteinander der europäischen Staaten?«
»Ja.«
»Mit welcher Begründung?«
»Da gäbe es viele.« Das war keine ausweichende Antwort. Lenz setzte auf Brandt. Einer der Reporter hatte gesagt, was auch er, Manfred Lenz, empfunden hatte, als er, vor dem Fernseher sitzend, Brandts Aufsehen erregenden Kniefall vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos miterlebte: Da kniete einer – der es eigentlich gar nicht nötig hatte, weil er von Anfang an gegen den Nazi-Terror gekämpft hatte – für alle die nieder, die es sehr wohl nötig gehabt hätten, aber meinten, sich nicht so weit demütigen zu dürfen. War ja längst an der Zeit, dass deutsche Politiker die Verantwortung für die Verbrechen der Nazi-Zeit übernahmen; wie sonst wollten sie eines Tages in normaler Nachbarschaft mit den von Deutschland überfallenen Nachbarstaaten leben?
»Glauben Sie etwa, dass in der BRD das Kapital entmachtet ist, nur weil jetzt dort die SPD den Kanzler stellt? Bilden Sie sich ein, dass die Bundeswehr aus der Nato austritt, nur weil da drüben jetzt die SPD regiert?«
»Was fragen Sie mich? Ich bin nicht Mitglied der SPD.«
»Aber ihr Sympathisant.«
»Wenn Sie das sagen.«
Der Leutnant hob den Blick. Er hatte einen neuen, provokanten Unterton in Lenz’ Stimme herausgehört. Lenz hielt diesen Blick aus. Er hatte, seit er mit Hahne und nun auch mit diesem Dr. Starkulla geredet hatte, über alles nachgedacht. Er musste sich entscheiden – sollte er Hahnes Dr.-Vogel-Geschichten glauben und Dr. Starkullas Andeutungen trauen oder nicht? –, und er hatte sich entschieden: Diese Häftlingsfreikäufe, wenn sie denn wirklich stattfanden, waren Hannahs und seine einzige Chance. In die DDR zurück konnten, wollten und durften sie nicht mehr. Und weshalb sollten Hahnes Geschichten denn nicht stimmen? Zuzutrauen war diesem Staat doch so etwas – und wenn Fränze diesen Dr. Vogel beauftragt hatte, lag dann nicht auf der Hand, dass das Bundesinnenministerium Bescheid wusste? Vielleicht standen ihre Namen ja längst auf der Einkaufsliste, und es war nur eine Frage der Zeit, bis auch sie
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