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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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setzte sich zu Hahne, drehte sich eine Zigarette und rauchte in tiefen, hastigen Zügen. Hinter den Glasziegelsteinen war es längst finster; Heiligabend!
    Coswig rückte seinen Hocker heran und bestückte sein weißbärtiges, Pfeife rauchendes Holzmännchen mit einem Räucherstäbchen. Fast ein wenig feierlich zündete er es an und begann, als das Männchen qualmte und die Zelle mit schwerem Duft erfüllte und er auch noch eine Kerze aus dem Weihnachtspaket seiner Frau angezündet hatte, O du fröhliche vor sich hin zu summen. Von Hahne kam kein Protest und sogar Breuning rückte ein bisschen näher heran. Zu viert saßen sie um den kleinen Tisch, starrten Kerze und Holzfigur an und versuchten, an nichts zu denken.
    Bald darauf hörten sie Glockenschläge. Durch die offene Lüftungsklappe drang das helle, volltönende Geläut. Breunings Augen füllten sich mit Tränen, bis er es nicht länger aushielt und hemmungslos zu weinen begann. Doch nicht einmal er wollte, dass sie die Klappe schlossen.
    Als die Glocken endlich verklungen waren, wurde ihnen noch schwerer zumute. Diese Stille, diese nackte Kälte um sie herum – und dieses verfluchte wehe Gefühl im Herzen!
    »Scheiß Weihnachten!« Hahne war es, der zuerst zu sich fand; Hajo Hahne, der keine Kinder hatte und keine Frau, nur eine Verlobte in WestBerlin und eine fürsorgliche Anna Karenina im Ostteil der Stadt. »Knobeln wir ein bisschen.« Er verteilte schon mal die Streichhölzer. »Vom Heulen kriegen wir nur dicke Augen.«
    Sie knobelten, und an diesem Abend gewann Coswig, der zuvor nur selten einmal über Lenz und Hahne triumphiert hatte. Seine Glückssträhne belustigte ihn, jeden erneuten Erfolg kommentierte er mit einem zufriedenen Kichern. Hahne ließ sich von dieser Stimmung anstecken und auch Lenz suchte sein Heil in der Flucht zu Albernheiten. Bald johlten sie laut, wenn Coswig wieder einen Sieg davongetragen hatte, flachsten und witzelten über dieses so plötzlich aufgetretene Talent; sie wussten, ein unbedachtes Wort und das Elend war da.
    Das Abendbrot enttäuschte: Kein Kartoffelsalat mit Bockwurst, nur Brot, Teewurst und Pfefferminztee wurde durch die Futterluke gereicht; das bessere Essen, wie sie es jeden Mittwoch bekamen, nur dass heute eben nicht Mittwoch, sondern Heiligabend war.
    Hahne zuckte die Achseln. »Voriges Jahr gab’s Bockwurst mit Kartoffelsalat. Ehrlich!«
    Coswig war die fehlende Wurst wurscht, er verlangte, ein paar Weihnachtslieder nicht nur summen, sondern singen zu dürfen. Hahne nickte gnädig: »Singe, wem Gesang gegeben.«
    Coswig war Gesang gegeben. Er hatte eine sehr schöne, ausgebildete Stimme. O du fröhliche , sang er, Es ist ein Ros entsprungen , zwei erzgebirgische Weihnachtslieder und Stille Nacht . Alle drei hörten sie zu und waren von Coswigs Bariton dermaßen beeindruckt, dass keinerlei Rührseligkeit aufkam. Auch ermahnte sie kein Wachposten, das Singen einzustellen.
    Später knobelten sie wieder. Und nun meinte der liebe Gott es gut mit Hahne. Ein ums andere Mal gewann er. »Nicht zu fassen!«, staunte er. »So viel Gerechtigkeit ist unsereins ja gar nicht mehr gewöhnt.«
    Breuning kiebitzte, um sich auf diese Weise abzulenken, hielt das aber nicht lange durch. »Zu Hause haben meine Frau und ich um diese Zeit immer einen Spaziergang gemacht.« Er musste wieder weinen.
    Niemand sagte etwas. Lenz sah Roberts Wohnzimmer vor sich, die Ecke, in der Jahr für Jahr der Tannenbaum stand. Dort saßen jetzt die Kinder. Wie war ihnen zumute? Konnten sie sich trotz allem ein bisschen freuen?
    »Was machst du, wenn du drüben bist?« Hahne wollte, dass sie auf andere Gedanken kamen. »Haste schon Pläne?«
    »Arbeiten«, antwortete Lenz. »Geld verdienen, eine Wohnung einrichten, was denn sonst?«
    »Baust du dir später mal ein Haus?«
    »Bestimmt nicht.«
    »Und warum nicht? Willst du reisen?«
    Natürlich wollte Lenz irgendwann reisen. Einmal mit Hannah und den Kindern die Hände in den Rhein stecken, Nordseeluft schnuppern und die Alpen sehen; einmal Paris und Rom. Aber er saß nicht hier, weil ihn das Fernweh zwickte. Wäre dies der Grund für ihre Katastrophe, wie sehr müssten Hannah und er sich jetzt vor den Kindern schämen.
    Coswig: »Ihr redet, als wärt ihr schon so gut wie drüben.«
    »Sind wir doch auch.« Hahne zwinkerte Lenz zu.
    Coswig: »Drüben werdet ihr euch auch anpassen müssen.«
    Hahne: »Danke für die Belehrung. Eines aber wirst sogar du zugeben müssen, Mr. Alles-wird-schlecht, allein

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