Krokodil im Nacken
für seine abweichende Meinung ist drüben noch niemand in den Knast gegangen.«
Lenz: »Ich werd mich niemals mehr einer Sache anpassen, die mir nicht gefällt.«
Eine Zeit lang schwiegen sie, dann begann Hahne erneut: »Worin siehst du den Hauptunterschied zwischen Ost und West, Manne?«
Coswig: »Egal, welche Unterschiede, die Frage muss lauten: Wo bist du zu Hause? Im Peter-Stuyvesant -Country – oder im Staat der Helden der Arbeiterklasse? Das Übel auf der anderen Seite des Flusses sieht immer harmloser aus als das auf der eigenen Seite.«
»Zuallererst muss ich in mir zu Hause sein dürfen«, sagte Lenz.
Hahne: »Richtig! Und das bist du nicht in einem Land, in dem der Nachbar den Nachbarn bespitzelt, die Schwester den Bruder, der Sohn den Vater, der Mann die eigene Ehefrau und umgekehrt. Wo ich mich in mir zu Hause fühlen soll, muss es ein Mindestmaß an Freiheit geben.«
Coswig: »Meint ihr denn, dass das so leicht wird, mit der westlichen ›Freiheit‹ klarzukommen? Keiner, der euch sagt, was ihr zu tun habt, für alles seid ihr selber verantwortlich. So manch einer ist in der freien Wildbahn schon umgekommen.«
Hahne: »Lieber die Freiheit des Dschungels als ewig die Angst, wegen Sabotage, Vertrauensmissbrauch, Terror, staatsfeindlicher Hetze, staatsfeindlicher Verbindungen, Landesverrat, Geheimnisverrat, Spionage, Rowdytum oder tausend anderer Vergehen gegen die öffentliche Ordnung unseres sozialistischen Musterlandes eingesperrt zu werden. Lies doch mal unser Strafgesetzbuch, du reumütiger Sänger, da wird dir Angst und Bange, für welche Delikte unsereins alles in den Knast kommen kann.«
Wieder schwiegen sie, dann begann Coswig: »Vielleicht gibt’s ja nirgendwo die wirkliche Freiheit, vielleicht sehnen wir uns nur nach einem Phantom.«
Hahne: »Quatsch! Seit ich hier bin, weiß ich ganz genau, was Freiheit ist.«
Ein neuer Streit schien sich anzubahnen. Lenz aber hatte keine Lust mehr abzuwiegeln. Er gab Hahne Recht: »Freiheit ist wie Gesundheit. Erst wenn du so richtig krank bist, lernst du sie schätzen.«
Ein Weilchen starrte Coswig nur sein Räuchermännchen an, dann beugte er sich plötzlich vor und nahm das Foto von Lenz’ Kindern in die Hand, das Lenz auf seine Pritsche gelegt hatte, um es nicht immer wieder ansehen zu müssen. »Und was ist, wenn sie deine Kinder hier behalten, Manne?«
»Dann gehe ich auch nicht.«
Coswig lehnte das Foto so an die Glasziegelsteine, dass es von der Kerze beleuchtet wurde, betrachtete es noch ein Weilchen und zuckte die Achseln. »Na ja, sie könnten deine Frau und dich aber auch gewaltsam abschieben – und zwar ohne die Kinder!«
Das war zu viel. »Dreckskerl!« Lenz sprang auf, packte Coswig an seinem Melkerhemd und schüttelte ihn. »Bist du von Natur aus so neugierig oder erfüllst du nur einen Auftrag?«
»Red keinen Stuss. Man wird doch mal fragen dürfen.«
»Fragen darfste, aber nerven darfste nicht.« Lenz hatte sich wieder in der Gewalt. Er ließ Coswig fahren, griff in seinen bunten Teller und warf eine Hand voll Bonbons nach ihm. »Schönen Gruß von Onkel Mielke! Die grün Eingewickelten sind giftig.«
Coswig antwortete auf gleiche Weise und auch Hahne griff in das Bonbon-Bombardement ein, bis schließlich jeder jeden bewarf. Nur Breuning stand abseits und starrte sie an, als wäre er unter die Verrückten gefallen. Für diese Art von Verzweiflung hatte er kein Verständnis.
Als ihnen die Bonbons ausgegangen waren, opferten sie auch die Kekse und das Obst; als die Teller gänzlich leer waren, lasen sie alles wieder auf, nahmen hinter den Pritschen Deckung und eröffneten erneut das Feuer. Jeder Treffer wurde bejubelt.
Hahne war es, der als Erster wieder zur Besinnung kam. »Mensch, unsere Vitamine!« Eilig begann er das Obst und die Kekse, soweit sie heil geblieben waren, wieder aufzulesen. Coswig und Lenz halfen ihm, und dann rauchten sie erst mal eine und lachten über ihre Albernheit und beschlossen, den Heiligabend damit hinter sich zu haben.
Doch natürlich konnten sie, als sie danach auf ihren Pritschen lagen, nicht gleich einschlafen. Sie redeten über dieses und jenes und irgendwann begann Hahne von seiner Gitta zu erzählen. Wie er sie kennen gelernt habe, die WestBerliner Klassenfeindin; während eines gesamtdeutschen Jugendseminars sei es passiert. »Hab mich gleich unsterblich in sie verliebt. Den ganzen Abend haben wir Händchen gehalten und am nächsten Morgen hab ich ihr dann mein FDJ-Hemd geschenkt und
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