Krokodil im Nacken
trotz Jos Protesten von Mutter Hilde aus dem Haus getrieben. Es schicke sich nicht, dass der Bräutigam in der Nacht vor der Hochzeit im Haus der Braut schlief, erklärte sie beharrlich. So gelangte er erst zwischen vier und fünf Uhr in seiner Wohnung an und machte sich nach drei schlaflosen Stunden – er befürchtete, trotz seines lauten Weckers nicht rechtzeitig zu erwachen – als wandelnde Leiche zurück auf den langen Weg zu den Möllers. Dort angekommen, stieß er auf eine wunderschöne Braut, die ihm, erleichtert über sein pünktliches Erscheinen, in die Arme fiel, und einen mit dem Küchenmesser in der Hand seine Stief- und Schwiegermutter durch die Wohnung jagenden Jo. Ihn habe sie ins Unglück gestürzt, indem sie ihm ihre kalte Tochter ins Bett legte, schrie er, den armen Manne aber habe sie mitten in der Nacht aus dem Haus gejagt, nur weil sie Hannah ihr Glück nicht gönnte. Sie sei eine am Herzen ihrer Stiefkinder nagende Fleischmade, er werde sie, bevor sie noch mehr Schaden anrichten könne, auf der Stelle abstechen.
»Nur noch ein paar Stunden«, flüsterte Hannah ihrem übernächtigten Bräutigam zu, »dann sind wir hier weg.«
Es war Gaby, die Jo endlich das Messer entwand. »Bring sie ein andermal um«, fuhr sie ihren noch nicht ganz ausgenüchterten Ehemann an. »Und uns beide gleich dazu. Anders kommst du ja doch nicht zur Ruhe.«
Durch einen schönen, sonnigen Maimorgen ging’s zum Standesamt, zu Mittag wurde in einem Restaurant gegessen, weitergefeiert wurde bei den Möllers. Hannah zählte die Stunden, die sie noch in ihrer Familie ausharren musste, Lenz, noch immer müde und verkatert, hielt sich allein durch Zusammenreißen aufrecht.
Es war noch nicht zehn Uhr abends, da ließen sie schon das Taxi vorfahren. Bereits auf der Flucht, in Höhe der zweiten Etage, wurde Hannah aber noch einmal zurückgerufen: Sie hatte vergessen, der Krummbiegel die zwei Mark fünfzig für die Dose Königsberger Klopse zu geben, die das junge Paar sich am nächsten Tag in den Kochtopf tun wollte. Sie stieg die Treppe noch einmal hoch, zahlte und floh danach noch hastiger. Erst im Taxi weinte sie. Lenz nahm sie in die Arme, versprach ihr alles, was sie hören wollte, und war fest entschlossen, seine Versprechen zu halten.
Danach gingen sie das erste Mal als Ehepaar miteinander ins Bett; im dritten Hinterhof, Parterre rechts, Dunckerstraße 12. Sie war zwanzig, er war neunzehn; was waren sie froh, dass sie sich hatten!
Tags darauf gab es Kartoffelbrei und Königsberger Klopse aus der Dose. Wie schmeckten diese Klopse, wie mundete der gemeinsam angerührte Kartoffelbrei.
Die Hochzeitsreise ging nur ein paar Straßen weiter, in die Woldenberger 19, Seitengebäude, dritter Stock. Hier wollten sie in ein paar Tagen einziehen, hier tapezierten und malerten sie und liebten sich zwischendurch auf den blanken Dielen. Silke, im vierten Monat unterwegs, war auch schon dabei.
Das Leben war schön, daran konnten alle Möllers und Krummbiegels dieser Welt nichts ändern.
Wenige Monate nach der Hochzeit meldete Lenz sich in der Volkshochschule an. Er wollte das Abitur ablegen; Grundvoraussetzung für ein späteres Studium. Zwei Jahre lang würde er viele gemeinsame Abende mit Hannah und Silke dafür opfern müssen. Wenn er Schauspieler werden wollte, konnte er sich das sparen. Aber wollte er denn noch Schauspieler werden? Er wusste nicht mehr, was er wollte, wusste nur, dass er endlich in irgendwelche Startlöcher musste.
Auf der Volkshochschule traf er zu seiner großen Freude Wissarionowitsch wieder. Der Lehrer Bachner war aus disziplinarischen Gründen dorthin strafversetzt, weil er vor seinen Baumschulenweger Schülern den antifaschistischen Schutzwall »Mauer« und dessen Errichtung eine »Feuerwehraktion« genannt hatte. Und dabei hatte er noch hinzugefügt, bei dieser Feuerwehraktion sei leider einiges unter Wasser gesetzt worden, was er zu den marxistischen Idealen rechne, weshalb er hoffe, dass das Wasser bald wieder ablaufen werde.
Die Frage, ob Wissarionowitsch nun, da er sich bewähren musste, anders reden würde als zuvor, war schnell beantwortet. Da standen Tag für Tag die vom Staat herausgegebenen Erklärungen, Begründungen und Parolen im Neuen Deutschland , der Lehrer Bachner aber scheute sich nicht, seine müden Abendschüler mit eigenen Ansichten aufzumuntern. Noch immer nannte er den Bau der Mauer ein Zeichen der Stärke – immerhin habe die westliche Welt dieses östliche Bollwerk schlucken
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