Krokodil im Nacken
müssen; andererseits sah er darin aber auch ein Zeichen der Schwäche, weil diese Abriegelung zum Westen hin ja notwendig geworden war, um nicht gänzlich auszubluten.
Wieder mal Unterricht, der Spaß machte; Stunden, in denen man sich über jedes Licht, das einem aufging, freuen konnte. Später allerdings, als Lenz längst nicht mehr auf der Volkshochschule war, wurde der Genosse Bachner doch noch gezähmt. Da durfte er zwei Lyrikbände veröffentlichen, eine Heftreihe Lyrik für junge Leute herausgeben und im Rahmen der FDJ mehrere Treffen junger Autoren veranstalten. Ein Aufstieg, der in einem tiefen »Sturz« endete, denn eines Nachts fiel der Lyriker Bachner betrunken die Treppe hinunter und brach sich das Genick. Ein Tod, über den gerätselt werden durfte: Steckte da wirklich nur der Suff dahinter? Hatte Bachner vielleicht nur deshalb so viel getrunken, weil er unter diesem Aufstieg litt? Oder hatte dieser frühe und ja auch makabre Tod in Wahrheit ganz andere Ursachen?
Zu Lenz’ Zeit war Wissarionowitsch eine Ausnahmeerscheinung. Jedenfalls an dieser Schule. Weshalb von den jungen Frauen und Männern, die sich da Abend für Abend nach der Tagesarbeit nur mit viel Disziplin in den Unterricht quälten, schon bald die ersten wegblieben. Ohne Hannah, das wusste Lenz, hätte wohl auch er sich bald verabschiedet. Seine Situation war besonders schwierig, er saß tagsüber in keinem Büro, beschäftigte sich nicht mit Krankengymnastik oder reparierte Fernsehapparate, er arbeitete so hart wie nie zuvor in seinem Leben.
Um an vier Abenden in der Woche zur Schule gehen zu können, hatte er sich von Rattlers Truppe verabschieden müssen; Arbeit im Drei-Schicht-System war nicht mehr möglich. Da er aber nicht weniger verdienen durfte, hatte er sich innerhalb des Kabelwerks zum Vulkaniseur umschulen lassen. Ein schlimmer Fehler, wie er bald einsah. Drei große, bis auf 145°C erhitzte Öfen hatte er zu betreuen. Unentwegt musste er Bleche mit gummiartigen Kleinteilen belegen, in die Öfen schieben, die entsprechende Temperatur einstellen, die Bleche – wenn das Zeug hart genug geworden war – wieder herausziehen, abräumen und neu belegen. Alles in einem sehr engen Zeitrhythmus, damit kein Ofen leer stand. Oft raste er, kaum weniger glühend als seine Öfen, zwischen den Blechen hin und her und schaffte dennoch die Norm nicht. Die Stirn von Meister Wagenknecht, der schon ein bisschen verwitterten Alt-Eiche dieser Abteilung, legte sich in immer tiefere Falten, wenn er Lenz’ Tagesproduktion betrachtete. »Ist ja kein Wunder, wenn du nie ausschläfst«, polterte er eines Tages los. »Was soll diese ganze Abendschulrennerei denn? Es muss für alles Leute geben; wo kämen wir denn hin, wenn wir alle Professoren werden wollten? Der Stolz ist die erste der sieben Todsünden.«
Lenz hasste die Hitze der Öfen und das unmenschliche Tempo, das er anschlagen musste, hasste diese ganze öde, sture, eintönige Tätigkeit, hasste Meister Wagenknecht. Nur ein Idiot wie Manfred Lenz konnte glauben, acht Stunden am Tag herumrennen und nach diesen acht Stunden Schwitzen, Flitzen und Bücken noch weitere vier Stunden lang Differenzial- und Integralrechnung, Russisch und chemische Analysen pauken zu können. Allein weil er Hannah nicht enttäuschen wollte, riss er sich immer wieder zusammen.
War ja auch für Hannah nicht leicht, Abend für Abend allein zu Hause zu sitzen, und das auch noch hochschwanger. In dem düsteren Treppenhaus des Seitengebäudes, in dem ihre Wohnung lag, war fast immer das Licht defekt, und einmal wurde sie von einem Tippelbruder bis vor die Wohnungstür verfolgt und danach noch über eine Stunde lang belagert. Wie war sie jedes Mal froh, wenn sie seinen Schlüssel hörte!
Schön waren der Mittwochabend und das Wochenende. Dann saßen sie an ihrem runden Tisch neben der Stehlampe, hörten Radio – sie hatten sich bald eines geleistet, ein supermodernes Stück, natürlich auf Ratenzahlung –, lasen oder lauschten bei offenem Fenster den Streitigkeiten im Haus. Wahre berlinische, aber nicht immer lustige Volksstücke wurden da manchmal gegeben. »Du Negernutte«, dröhnte es eines späten Abends über den Hof. »Ein weißer Mann besorgt’s dir wohl nicht richtig? Nimm dein ewig heulendes Affenkind und ab mit dir in den Dschungel.« Eine junge Studentin, die von ihrem schwarzen Freund ein Kind hatte, war damit gemeint. Zum Glück war sie nicht auf den Mund gefallen. »Nazi-Zicke!«, schrie sie zurück.
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