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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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»Kuck erst mal in den Spiegel, bevor du aus deinem Gully auftauchst, dann siehst du, wer ’ne Affenstirn hat.«
    Hörten sie nicht Radio, lasen oder wurden von einer Hoftheater-Aufführung abgelenkt, machte Lenz Schulaufgaben. Die nahm ihm ja keiner ab. Gingen sie danach am Abend zu Bett, legte er den Kopf auf Hannahs Bauch und flüsterte dem kleinen Lenz-Kind, das da kommen sollte, zu, wie sehr er sich schon freute. »Brauchst keine Angst zu haben vor der Welt, hast ja uns.«
    Nach zwei Monaten an den Öfen schmiss er Meister Wagenknecht dann die Arbeitshandschuhe vor die Füße und suchte sich neue Arbeit. Er fand sie am S-Bahnhof Ostkreuz; Tauchlackierer im VEB Leuchtenbau durfte er nun sein.
    Eine ruhige Arbeit: Er spannte eine bestimmte Anzahl Lampenpendel in eine Tauchvorrichtung, tauchte die Vorrichtung in weiße Farbe und hängte die so auf einfache und schnelle Weise lackierten Pendel in einen Ofen, zum Trockenbrennen. Danach dasselbe noch mal und noch mal und immer so weiter, bis Feierabend war.
    Eine zu ruhige Arbeit: Wie fühlte er sich schon bald gelangweilt! Anfangs tröstete er sich noch damit, dass er beim Einspannen und Eintauchen ja an seine Schulaufgaben denken konnte, später versuchte er, nebenher zu schreiben. Es war alles nicht das Richtige.
    Dann, im November, an einem Sonntag, kam Silke zur Welt. Eine schöne Zeit begann. Es war ja nun so gemütlich bei ihnen, und das trotz des monströsen Zinktopfes, in dem Hannah die Windeln auskochte, bevor Lenz sie über dem Ausguss ausspülte und auswrang, trotz der nun viel zu engen Wohnung, trotz der ewig zu kalten Küche, die leicht einen Kühlschrank ersetzte. Wenn Silly in ihrem Bettchen lag oder in ihrem Laufställchen herumkroch und mit ihrem Spielzeug spielte, Hannah irgendwas werkelte und Lenz Aufgaben machte, hatte er manchmal den Wunsch, die Zeit möge stehen bleiben. Viel besser konnte es eigentlich nicht kommen.
    Ja, in ihrem kleinen Nest war alles bestens, die Lampenpendel-Ödnis aber nervte und die Schule stumpfte ab. Da lasen sie im Geschichtsunterricht Das kommunistische Manifest , Staat und Revolution , Was tun? und Der linke Radikalismus , die Kinderkrankheit im Kommunismus , lernten den Zusammenhang von Lohnarbeit, Mehrwert und Kapital nachplappern und nahmen den historischen Materialismus durch. Marx, Engels und Lenin zelebriert, gequirlt und gestanzt. Dr. Manstein, ein leicht fülliger und sehr behäbiger, von Sendungsbewusstsein strotzender, zutiefst strenggläubiger Apparatschik, war leider so gar kein Wissarionowitsch. Lenz interessierte sich für Geschichte und auch für die Ursprünge der Arbeiterbewegung und stellte oft Fragen – Fragen, die Manstein stets lächelnd beantwortete. War ja eh alles klar. Mit der Überwindung des Kapitalismus war die Vorgeschichte der Menschheit abgeschlossen, was folgte, war der Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit. Die entwickelte sozialistische Gesellschaft, sie sei ja längst dabei, sich zu vervollkommnen. Also werde es schon in ganz naher Zukunft jede Menge materiellen und geistigen Überfluss, eine unvorstellbare Freiheit, die wahre Demokratie und einen ganz neuen Typus Mensch geben.
    Lenz: »Und das ist dann der Kommunismus?«
    Dr. Manstein: »Jawohl, wenn wir den Sozialismus aufgebaut haben, beginnt die Phase des Aufbaus des Kommunismus.«
    »Und was kommt danach?«
    »Wonach?«
    »Nach dem Kommunismus. Die Entwicklung muss doch weitergehen. Hab mal irgendwo gelesen, dass es keine letzten Wahrheiten gibt. Jeder Weg zur Erkenntnis sei mit Irrtümern gepflastert, die Wahrheit von heute sei der Irrtum von morgen.«
    Dr. Manstein: »Das ist bürgerliche Philosophie. Was soll denn noch kommen, wenn die Menschheit von aller Ausbeutung befreit ist und jeder nach seinen Ansprüchen leben kann? Wollen Sie etwas erfinden, das heller als die Sonne strahlt?«
    Das war so schön gesagt, dass Lenz keine weitere Fragen mehr hatte. An diesem Abend nicht und an allen folgenden nicht. Er grinste nur noch, wenn Manstein mit der Zukunft prahlte, von der er sicher war, dass sie schon begonnen hatte; grinste manchmal so sehr, dass ihm am Ende von Mansteins Unterricht das Gesicht wehtat.
    Einmal in jener Zeit hatte Lenz sich den Fuß angeknackst, war krankgeschrieben und tagelang allein zu Hause, denn Hannah war arbeiten und Silke in der Kinderkrippe. Als er wieder ein bisschen laufen konnte, lockte ihn der Sonnenschein aus dem Haus. Gemächlich humpelte er über den Gendarmenmarkt

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