Krokodil im Nacken
und den Alexanderplatz, sah in Schaufenster, durchwühlte verschiedene Buchhandlungen und begriff plötzlich, dass an seinem Leben etwas nicht stimmte. Es war schön mit Hannah und Silke, aber reichte dieses kleine Glück für ein ganzes Leben? Solange er nicht wusste, was er mit sich anfangen sollte, würde er nie richtig glücklich werden.
Hannah hatte es da besser. Sie hatte die Filmabnahmestelle inzwischen verlassen, leitete trotz ihrer Jugend in einem großen Außenhandelsunternehmen das Schreibbüro und bildete Lehrlinge aus. Sie war für die Bibliothek des Unternehmens verantwortlich und nebenbei auch noch freie Mitarbeiterin einer Buchhandlung; bekam Bücher in Kommission und verkaufte sie über Mittag im Speisesaal. Ihre Tage waren mehr als nur ausgefüllt, sie ging in ihrem Dasein auf, war die allseits beliebte, tüchtige Kollegin und zärtliche Mutter. Er, Lenz, ging in nichts auf, außer dem Zusammenleben mit Hannah und Silke erfüllte ihn nichts.
Die Schauspielerei fiel ihm wieder ein, sein Kindheitstraum. Kaum konnte er wieder einigermaßen laufen, stellte er sich im BAT vor, dem Berliner Arbeiter- und Studententheater, das sich in einem ehemaligen Hinterhofkino eingerichtet hatte. Wolf Biermann, der Lyriker und Sänger, hatte es gegründet, dummerweise aber mit einem Stück eröffnet, in dem er zwar den Mauerbau verteidigte, jedoch mit eigenwilligen, seiner Partei nicht genehmen Argumenten. Noch vor der Premiere war das Stück verboten und die Truppe auseinander gejagt worden. Nun wollten neue Leute und ein paar Wiedergekommene das BAT mit Leben erfüllen. Ein russisches Stück wurde geprobt; der Autor war gerade sehr im Gespräch.
Lenz durfte vorsprechen und bekam in dem auf heitere und sehr milde Weise das Leben in der Sowjetunion kritisierenden Stück die Rolle eines schnell sprechenden, lustig-sympathischen sibirischen Zeitungsreporters zugeteilt. Mit schief aufgesetzter Ledermütze und aufgetupften Sommersprossen stürmte er auf die Bühne und ratterte seinen Text herunter. Das Publikum sollte lachen; es wunderte sich aber wohl nur, wie einer so schnell sprechen konnte. Dennoch: Seine Theaterleidenschaft, da war sie wieder! Er musste endlich in Erfahrung bringen, ob er Talent hatte, und so studierte er drei Texte ein: Marc Antons berühmte Leichenrede aus Shakespeares Julius Cäsar , einen jovialen Kapitalisten aus der Frau Flinz , einem aktuellen Stück, das zurzeit am Berliner Ensemble gegeben wurde, und ein langes Gedicht von Becher. Dermaßen präpariert fuhr er nach Babelsberg, zur Filmhochschule, um sich einem Eignungstest zu unterwerfen. Die Schauspielschule an der Spree lag ihm zu nah am Kabelwerk.
Dreißig angehende Theater- und Filmstars zitterten und bangten an diesem Tag in der Halle der Filmhochschule; nie zuvor hatte Lenz in so viel erwartungsvoll gespannte Gesichter geblickt. Wie sie einander abschätzten, all diese jungen Männer und Frauen; konnte denn der oder die mehr Talent haben? Lenz glaubte allen anderen, dass sie geeignet waren, nur sich selbst gab er keine Chance.
Namen wurden aufgerufen, mit blassen Gesichtern verschwanden die Ersten im Prüfungsraum. Alle kamen sie betrübt zurück. »Ich bekomme schriftlichen Bescheid.« Als Lenz an der Reihe war, staunte er über sich. Eben noch hatte ihn das Lampenfieber gewürgt, jetzt, auf der kleinen Probebühne, fünf sehr ernste Gesichter vor sich, war ihm alles scheißegal. Er legte los und staunte noch einmal: Wie der Text saß! Wie er in diese Typen kroch, die er darzustellen hatte! Das war doch Talent, oder?
Als er fertig war, tuschelten die Mitglieder der ehrenwerten Prüfungskommission miteinander; dann das Urteil: »Danke schön! Bitte warten Sie in der Halle.«
Der Erste, der warten sollte! Das musste was zu bedeuten haben. Davon waren alle anderen noch in der Halle verbliebenen Kandidaten überzeugt.
Und Lenz blieb der Einzige, der warten sollte und danach noch einmal vor die Prüfungskommission gebeten wurde. Er betrat den Raum – und erschrak: Diesmal saß ihm eine erweiterte Runde gegenüber. Auch hatten im Hintergrund einige Schauspielschüler Platz genommen, die sich die magere Talentausbeute dieses Tages mal anschauen wollten. Todesmutig stürzte er sich noch einmal in seine Rollen, dann fragte man ihn, ob er sie allein oder mit fremder Hilfe erarbeitet habe.
Er hatte sie allein erarbeitet.
Nun gut, er werde schriftlichen Bescheid bekommen.
Enttäuscht darüber, keine erfreulichere Auskunft erhalten zu
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