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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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Bett und schlafen Sie Ihren Rausch aus« oder »Nein danke! Ich hab nur noch hundertzwölf Tage, die reiße ich ab und dann nichts wie weg von hier«.
    »Gefreiter Lenz! Gefreiter Lenz!«, insistierte der stockbetrunkene Sievers mit Tränen in den Augen. »Es geht um unsere Klassengenossen. Da dürfen wir doch nicht abseits stehen. Die Heimat lieben heißt auch was für die Heimat tun … Und ist Vietnam denn nicht unsere Heimat?« Er richtete sich auf, schwankte von Bett zu Bett und strahlte alle an. »Es ist Krieg, Genossen! Jawohl, Krieg! Wir haben geschworen, unser Leben für die gute Sache hinzugeben …« Er jubelte: »Alle Freiwilligen werden nach Vietnam ausgeflogen … Wir …« Er wusste nicht mehr weiter und fing plötzlich zu weinen an. »Wir … verdammt noch mal! … wir müssen doch unsere Pflicht tun.«
    Da wagte Lenz endlich zu sagen: »Genosse Oberfeldwebel! Wir sollten am besten morgen über alles reden. Ist schon spät, und die Vergatterten müssen schlafen, sonst ist die Gefechtsbereitschaft gefährdet.«
    Das Wort »Gefechtsbereitschaft« wirkte. Sievers riss sich zusammen, salutierte vor dem in seinem Bett liegenden Lenz, machte kehrt und stolperte aus der Stube. Am nächsten Morgen war dieser Vorfall in seinem Kopf ausgelöscht. Verkatert und mit mürrischem Gesicht hockte er in der Führungsstelle.
    Der Vietnamkrieg war ein Alptraum. Keiner, der nicht die grauenvollen Fernsehbilder gesehen hatte – napalmverbrannte Kinder, zahllose getötete Vietnamesen, gefangen genommene US-Soldaten. Dazu Pressekonferenzen, Protestdemonstrationen, Spendenaktionen. Der Westen behauptete, in Vietnam werde die freie Welt verteidigt, im Osten wurden die Amerikaner zu Mordgesellen und Piraten der Lüfte erklärt. Lenz’ Haltung zu diesem Krieg war eindeutig: Die Amerikaner hatten in Vietnam nichts zu suchen. Sie verteidigten dort nicht die freie Welt, sondern das korrupte, südvietnamesische Regime und damit eines ihrer Einflussgebiete in Südostasien. Eben Großmachtpolitik: Ob »Sozialismus« oder »Kapitalismus«, wo ich meinen Fuß hingesetzt hab, halte ich die Stellung.
    Aber was, wenn aus Sievers nicht der Suff gesprochen hätte und nicht nur Freiwillige, sondern sie alle nach Vietnam hätten verlegt werden sollen? Eine Frage, die auf der Stube der Planchettis tagelang diskutiert wurde. Einige schworen, in diesem Fall sofort in die umliegenden Wälder zu verschwinden, andere planten Selbstverstümmelungen. Lenz musste mal wieder an jenen Alptraum aus seiner Kindheit denken: wegen Fahnenflucht erschossen; die Kugel, wie sie so heiß in sein Herz drang …
    Stabsfeldwebel Kunze, ihr Hauptfeldwebel, war ein ganz anderer Typ Soldat. Für Kunze schien alles Soldatentum allein aus Fleiß, Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit zu bestehen. Was für ein Anblick, wenn er in eng anliegenden, blank gewienerten Offiziersstiefeln, seiner immer ein wenig zu groß wirkenden Ohrenhose und der glatt gespannten Schirmmütze auf dem schmalen Kopf vor ihnen stand! Ein Spinnefix! Ein Hämeken! Ein Kleiderbügel! Einer, bei dessen Anblick man einfach grinsen musste, und das umso stärker, je mehr er sich aufplusterte. Diese roten Ohren, das mädchenhaft weiße Gesicht, die braunen Dackelaugen, das früh ergraute, immer ein wenig ausgefranst wirkende Haar – der Kunze war so ulkig, dass sie ihn trotz all seiner Macken im Lauf der Zeit fast lieb gewannen.
    Kunzes Lieblingsbeschäftigung: Erwischen. Immerzu wollte er jemanden bei irgendwas ertappen, ständig lag er auf der Lauer, um in den unmöglichsten Situationen den kleinen, spitzen Zeigefinger auszustrecken, voller Triumph auf irgendeine nicht ordnungsgemäße Kleinigkeit hinzuweisen und den so Erwischten zur Strafe stundenlang mit irgendwelchen Geländearbeiten zu beschäftigen.
    Oberleutnant Günther Müller, Kompaniechef in Pragsdorf, mittelgroß, schlank, schmale Lippen, unruhige Augen, Spitzname »Cäsar«, vervollständigte das Quartett sozialistischer Führungspersönlichkeiten. Seinen Spitznamen verdankte er einem britischen Filmlustspiel, das im Speisesaal vorgeführt worden war. Darin gab ein Komiker den Cäsar, dessen Ähnlichkeit mit Müller frappierend war: der gleiche empört-verwundert-fragende Augenaufschlag, wenn etwas nicht so lief wie gewünscht, das gleiche nervöse Zucken um den Mund, wenn er nachdachte, die gleiche schiefe Kopfhaltung, die den Eindruck erweckte, er höre auf dem linken Ohr nicht mehr so gut. Müller selbst hatte die Ähnlichkeit

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