Krokodil im Nacken
Zweifel, der Leutnant hatte folgende Worte gemurmelt: »Na ja, Sie werden schon noch dahin kommen, wo Sie hinwollen … Ob das gut für Sie ist, ist eine andere Frage.«
Die ganze Nacht, bis in den frühen Morgen, rief Lenz sich jene Worte immer wieder ins Gedächtnis zurück: Wo wollten Hannah und er denn hin, wenn nicht in die Bundesrepublik? Hahnes Ausreiseszenarien – hatte der Leutnant sie mit diesen Worten bestätigt? Aber was sollte ihn dazu veranlasst haben, ihn derart aufzumuntern? Hofften sie etwa, er könnte ihnen, war er erst drüben und es gefiel ihm dort nicht, irgendwie nützlich werden; »Wiedergutmachung« auf höherer Ebene?
Schlimme Wochen folgten. Die Lektüre der Anklageschrift verleitete Lenz mal wieder dazu, Verteidigungsreden zu entwerfen: Ja, sie waren schuldig! Ja, seine Frau und er hatten die DDR illegal verlassen wollen. Aber nur, weil es keine legale Möglichkeit zur Ausreise gab! Ja, sie standen zu ihrer Tat! Ja, sie wollten auch jetzt noch ausreisen, nun aber legal, was ja wohl doch »möglich« sei, wie sie inzwischen erfahren hätten.
Der Richter: Und wenn Sie sich in dieser Hinsicht geirrt haben?
Lenz: Dann werden wir es wieder illegal versuchen müssen.
Wer brechen will, muss ganz brechen; selbst wenn das bedeutete, dass sie für so viel Uneinsichtigkeit ein halbes Jahr mehr bekamen. Sie wurden allein nach den Paragraphen 100 und 213 angeklagt, das konnten anderthalb bis zwei Jahre werden. Was nützte es ihnen, wenn sie danach in die DDR entlassen wurden? Musste ja niemand wissen, dass sie schon allein der Kinder wegen keine erneute Flucht riskieren würden.
Zwischendurch, tagsüber und nachts, während der Freistunde, während des Lesens oder mitten in einem seiner Marathonläufe, immer wieder diese Worte: Sie werden schon noch dahin kommen, wo sie hinwollen .
Was steckte dahinter? Der Leutnant hätte doch nie gewagt, aus eigenen Stücken eine derartige Bemerkung zu machen – es sei denn, er wusste, dass sie in diesem Augenblick nicht abgehört wurden …
Wenige Tage später – eine zweite positive Überraschung! Lenz hatte dem Leutnant während ihres letzten Gesprächs im Scherz gestanden, sich im Knast das Prassen angewöhnt zu haben. Sein Einkaufsgeld sei bereits aufgebraucht, nun müsse er für den Rest des Monats sowohl auf den lebensnotwendigen Tabak als auch auf die geliebten Teemarken verzichten. Der Leutnant musste Hannah davon erzählt haben; als an jenem Mittwochnachmittag das schmatzende Geräusch der Gummiräder des Einkaufswagens auf dem Linoleumfußboden des Zellenganges zu hören war und kurz darauf auch Lenz’ Klappe geöffnet wurde, wollte er schon dankend abwinken, der Graue aber reichte ihm eine Tüte durch die Klappenöffnung. »Das kommt von Ihrer Frau. Außerdem dürfen Sie von ihrem Konto einkaufen.«
Welch unverhofftes Glück! Ein Päckchen Tabak, fünfzig Blatt Zigarettenpapier, eine Schachtel Zündhölzer erstand Lenz, mehr nicht. Er wollte Hannahs Einkaufskarte nicht zu sehr schröpfen. Als der Wagen dann weitergefahren und die Klappe geschlossen war, öffnete er die Tüte: Zwei Orangen, zwei Zitronen, ein Stück Kuchen und rote Teemarken steckten drin.
Er presste mal wieder die Stirn an die kühle, glatte Zellenwand: Hannah, Hannah, Hannah!
Beide Erlebnisse stimmten ihn so euphorisch, dass er in der Nacht nach dieser Bescherung eine noch viel größere dritte Überraschung für möglich hielt. Laute und sehr eilige Schritte hatten ihn aufgeschreckt; Stiefelschritte gleich mehrerer Männer. Eine Zelle wurde geöffnet, irgendwelche leisen Worte fielen, bis nach wenigen Minuten die Zelle wieder geschlossen wurde und die Schritte sich entfernten; darunter die Schlürfgeräusche von Filzlatschen.
Handelte es sich um ein Nachtverhör oder um eine durch einen Neuzugang notwendig gewordene nächtliche Verlegung? Aber dazu hätten doch nicht gleich mehrere Schließer mobilisiert werden müssen.
Er legte sich wieder zurück, lauschte aber weiter. Und richtig, kurze Zeit später hörte er erneut Schritte – und wieder wurde eine Zelle aufgeschlossen und die Stiefel und ein paar Filzlatschen entfernten sich eilig.
Was war da im Gange? Transporte »dorthin, wo Sie hinwollen«?
Er sprang auf und presste ein Ohr an den Türspalt. Das konnten keine normalen Transporte sein; die würden doch nicht mitten in der Nacht abgewickelt werden. Und hatte Hajo Hahne denn nicht gesagt, dass die Verkaufslieferungen in die Bundesrepublik von überall aus starten
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