Krokodil im Nacken
konnten, aus der U-Haft genauso wie aus dem Strafvollzug? War doch gar nicht nötig, sie erst noch zu verurteilen. Das hier war ein Staat, der sich nur dann an seine Gesetze hielt, wenn sie ihm in den Kram passten. Vielleicht stand der Bus, von dem Hahne erzählt hatte, ja längst im Gefängnishof, hatten sie Silke und Michael bereits geholt und in nur wenigen Minuten sahen sie sich wieder … Und weil er davon schon gewusst hatte, hatte ihm der Leutnant diesen Wink gegeben …
Wieder Schritte im Flur. Und diesmal blieben sie vor seiner Zelle stehen. Lenz’ Herz raste, er trat von der Tür zurück und musste schlucken. Doch dann flüsterten die vor der Tür einander nur etwas zu, einer kicherte und sie machten noch ein paar Schritte bis vor die Nachbarzelle. Dort klirrten die Riegel, dort wurde aufgeschlossen, von dort aus entfernten sich nach erneutem Gemurmel mehrere Stiefel und ein paar Filzlatschen in Richtung Treppenhaus.
Lenz setzte sich auf seine Pritsche und schlug die Hände vors Gesicht. Was hatte er sich da nur eingeredet! Silke und Micha bereits im Hof …
Dennoch lag er auch in den folgenden Nächten lange wach und lauschte. Irgendwas war geschehen in dieser besonderen Nacht. Ein Transport musste abgegangen sein, egal wohin. Und bedeutete das denn nicht, dass noch weitere solcher nächtlichen Transporte abgehen konnten?
8. Papier ist geduldig
D ie ersten Tage nach der Heimkehr von der Armee, die neue Wohnung am Stadtrand, die größer gewordene Familie.
Silke war vier Jahre alt und niedlich und hatte Angst vor Fliegen. Das dicke Baby Micha, ein ruhiges Kerlchen, kuckte nur und kuckte und manchmal lächelte es wie ein weiser, gütiger, kleiner Buddha. Hannah, aus ihrem Alleinsein erlöst, musste erst wieder das Teilen lernen: Was machst du, was mach ich? Lenz genoss die neue Viersamkeit – und beobachtete staunend seinen Aufstieg:
Gleich nach seiner Rückkehr ins Depot war er vom Herrn des Hauses, Direktor Alfred Ketzin, empfangen worden. Der große, wuchtige Mann, der wegen einer Kriegsverletzung noch immer am Stock ging, wollte ihn persönlich begrüßen. Das hatte er ja noch nie erlebt, dass die Nationale Volksarmee sich bei ihm dafür bedankte, ihr einen solch einsatzwilligen und fähigen Kader zur Verfügung gestellt zu haben. Keine Frage, dass Lenz nicht Außenexpedient bleiben durfte. Zumal er ja nun auch sein Studium beginnen würde. Disponent in der Apothekenabteilung, rechte Hand des Abteilungsleiters, wäre das nicht genau das Richtige für einen strebsamen jungen Mann?
Lenz hatte nichts dagegen einzuwenden, pro Monat hundert Mark mehr zu verdienen. Zwar wusste er weder, wie ein Storno-Vorgang bearbeitet, noch wie eine Kartei geführt wurde, aber das war ja wohl erlernbar.
Er lernte es schnell und durfte sich vier Monate lang als rechte Hand eines nur wenig älteren, ziemlich pedantischen Querkopfs beweisen, der ihn misstrauisch beobachtete, weil er in ihm einen Konkurrenten sah. Dann wurde in der Einkaufsabteilung der Posten eines Hauptdisponenten frei. Ketzin dachte an Lenz, der als rechte Hand offensichtlich unterfordert war, und der hatte wiederum keinerlei Einwände. So ging es noch eins rauf; von einem Tag auf den anderen war er für den Einkauf einer ganzen Palette medizinischer Geräte, Instrumente und Verbrauchsartikel verantwortlich. Sein Verantwortungsgebiet: die Bezirke Berlin und Frankfurt/Oder.
Er ging die Sache vorsichtig an, setzte sich an den Schreibtisch und spielte Pingpong. Kam ein Ball auf ihn zu, spielte er ihn zurück. Aber nur keinen Schmetterball riskieren, damit er nicht zu viele Fehler machte und das Spiel womöglich verlor. Erst als er sich sicher fühlte, ging er öfter mal in den Angriff über und die Schmetterbälle häuften sich.
Sein neuer Chef, Einkaufsleiter Max Blomstedt, fünfzig Jahre alt, gemütliches Schwergewicht mit dicker Brille und kurzem lockigem Haar, hatte bis zum Mauerbau in einem WestBerliner Krankenhaus einen höheren Verwaltungsposten innegehabt. Über Nacht von seinem Arbeitsplatz abgeschnitten, hoffte er zwei, drei Monate lang, dass die Amerikaner sich eine solche Mauer nicht gefallen lassen würden; eines Besseren belehrt, bewarb er sich beim Versorgungsdepot. Zuerst nur zähneknirschend, später über sich selbst spottend, machte er sich an den Wiederaufstieg. Inzwischen gab er sich loyal. Zwar würde er nie in die Partei eintreten, wie er Lenz während eines Weihnachtsfestes, als er schon einige Gläschen intus hatte,
Weitere Kostenlose Bücher