Krokodil im Nacken
treuherzig versicherte, ansonsten aber: Bitte schön, ich bin euer Kriegsgefangener! Ich arbeite für euch, so gut ich kann, und ihr bezahlt mich dafür, so gut ihr könnt. »Wat soll ick ’n sonst machen? Mit meiner Frau und Sack und Pack bei Nacht und Nebel über die Mauer hopsen? Mein Adlershofer Häuschen aufgeben, noch von Pappa jeerbt? Oder, Variante zwo, im Schmollwinkel hocken und Radieschen züchten?«
Viele Blomstedts mussten sich neu einrichten. Anfangs begegnete ihnen die Obrigkeit mit Misstrauen, später legte sich das. Die Blomstedts konnten was und waren motiviert. So war Max Blomstedt innerhalb von sechs Jahren »von ganz unten« zum Leiter der Einkaufsabteilung aufgestiegen und ganz sicher noch nicht am Ende der Karriereleiter angelangt. Seine Grenzgängerei – eine Jugendsünde! Waren ja so viele vom Feind irregeleitet worden; Schwamm drüber!
Blomstedt war mit Lenz’ Arbeit zufrieden und mochte den freundlichen jungen Mann. Als er nach nur einem Jahr gemeinsamer Tätigkeit zum Direktor für Arbeit befördert wurde, schlug er Lenz als seinen Nachfolger vor. Ketzin war einverstanden und das Haus in der Reinhardtstraße stand Kopf: In nur einem Jahr und vier Monaten war der junge Lenz den Weg gegangen, für den ein gestandener Mann wie Blomstedt sechs Jahre und so manch anderer ein ganzes Leben benötigte! Als Leiter der Einkaufsabteilung war er einer der fünf wichtigsten Männer im Haus – und hatte er nicht erst gestern Ware ausgeliefert, Lichtschutzgläser gesammelt und Trinkgelder kassiert? Hämische Bemerkungen blieben nicht aus; nicht alle guten Wünsche waren so gemeint.
Für Lenz dennoch eine angenehme Zeit. Als Außenexpedient hatte er das Haus aus der Spatzenperspektive kennen gelernt, jetzt war er die Taube auf dem Dach, verdiente nicht schlecht und hatte endlich mal das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Dazu der Umzug in die Innenstadt: Michaelkirchstraße 24, Drei-Zimmer-Neubauwohnung, nicht weit vom Alexanderplatz und nur wenige Meter vom Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße entfernt. Abends die Schlange der Westwagen vor dem Kontrollpunkt; bis Mitternacht mussten sie drüben sein. Traurigkeit? Wehmut? Ach was! Mach’s wie Maxe Blomstedt, richte dich ein; freue dich, dass ihr ein Zimmer mehr habt und nicht mehr jeden Morgen mit der S-Bahn in die Stadt fahren müsst; freue dich, dass ihr endlich von einer Waschmaschine, einem Kühlschrank und den noch fehlenden Möbelstücken träumen dürft. Und verdiene, damit diese Träume schneller Wirklichkeit werden, noch ein paar Mark hinzu; lass dich für den nächtlichen Bereitschaftsdienst einteilen, auch wenn du auf diese Weise immer mal wieder aus dem Schlaf gerissen wirst, weil ein LKW mit Ware vor dem Versorgungsdepot steht.
Kein Spaß, jede vierte, fünfte Nacht den Transportarbeiter zu spielen, aber nicht uninteressant! Das Depot hatte überall in der Stadt Lagerräume angemietet, zumeist in ehemaligen Ladengeschäften, so wurden die LKWs mal hier-, mal dorthin dirigiert und Lenz lernte sein Berlin mal wieder von einer anderen Seite her kennen. Schäbige Inschriften aus längst vergangenen Zeiten, an denen er tagsüber achtlos vorbeigegangen war, im nächtlichen Laternenlicht fanden sie zu alter Bedeutung zurück: Hier wurde mal koscher gegessen – wer wollte jetzt noch koscher essen? Hier wurde in den Zwanzigern geschwoft – jetzt stapelten sie hier Uringläser. Dunkle, enge Gassen, von nur trübe funzelnden Laternen beleuchtet – mussten hier nicht jeden Augenblick E.T.A. Hoffmann oder Franz Biberkopf die Straße entlanggeschwankt kommen?
Ein Nachteil seiner ungewöhnlichen Einsatzbereitschaft war, dass sie Aufmerksamkeit erregte. Gehörte ein so tüchtiger junger Mann denn nicht in die Reihen der Partei der Arbeiterklasse? Es war Willibald Bogner, der Kaderleiter, der sich das zum ersten Mal fragte; ein aufrechter Parteisoldat, für dessen Tätigkeit Lenz nur Misstrauen übrig hatte. Die Kaderakten, die von Bogner und seinesgleichen verwaltet wurden, begleiteten einen von Betrieb zu Betrieb, ein Leben lang. Hatte man irgendwelche Verweise oder Verwarnungen drinstehen, konnte man nur darauf hoffen, irgendwann von seinem zuständigen Kaderleiter zum Gespräch bestellt zu werden. Der ging dann mit dem Ex-Sünder die betreffende Akte durch, um sie – nach erfolgter Bewährung – zu bereinigen. Eine andere Möglichkeit, seine Jugendsünden nicht bis ins hohe Alter mit sich herumzuschleppen, gab es nicht.
Es war im
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