Krokodil im Nacken
Treppenhaus, als der kleine, grauhaarige Bogner ihn auf den »letzten Schritt« ansprach. Bogner stand ein paar Stufen höher und freute sich, auf den zwei Köpfe größeren Lenz herabblicken zu können. Der, von der Plötzlichkeit dieser Attacke überrascht, wehrte verlegen ab. Er fühle sich noch nicht reif genug für den Eintritt in die Partei.
»In deinem Alter haben andere im Widerstand gegen die Nazis ihr Leben gelassen. Denkste, die hat jemand gefragt, ob sie sich reif genug dafür gefühlt haben?«
»Aber so ein Schritt muss doch überlegt sein.«
»Überleg, wenn du erst noch überlegen musst. Aber denk daran: Wer reif genug sein will, ein Kollektiv zu führen, muss auch reif genug sein, sich selbst führen zu lassen.«
Drei Tage später – es war erneut im Treppenhaus, nur stand diesmal Lenz ein paar Stufen höher – die nächste Attacke: »Na, Kollege Lenz, biste in dich gegangen?«
»Hab nachgedacht und bin zu der Einsicht gelangt, dass ich tatsächlich noch nicht so weit bin. Will ja nicht nur Karteileiche sein.«
Bogner krauste die Stirn. »Erst mal biste ja nur Kandidat, musst nicht gleich Bäume ausreißen.«
»Aber ich bin ja nun mitten im Studium, dazu meine neue Aufgabe – hätt’ ja gar keine Zeit für Parteiarbeit.«
»Das geht anderen doch genauso …«
»Na ja, und dann gibt’s da noch ’nen dritten Grund: Vieles, was die Partei will, finde ich ganz gut, manches aber gefällt mir nicht. Wie soll ich denn vertreten, was ich für falsch halte?«
Da bekam Bogners Gesicht Farbe. »Lass uns diskutieren, was du noch nicht verstehst.«
Lenz: »Ich verstehe es ja – es gefällt mir nur eben nicht.«
Eine ziemlich deutliche Antwort. Bogner war entrüstet: »Kollege Lenz, du genießt eine ganz außerordentliche Förderung durch unseren Staat. Die folgerichtige Lehre daraus aber willst du nicht ziehen. Wie sollen wir da noch Vertrauen zu dir haben?«
Lenz: »Verbleiben wir so: Ich denk noch ein bisschen nach, und wir reden später noch mal über die Sache. Im Augenblick bin ich leider in Eile.«
Damit konnte ein so gut funktionierender Funktionär wie Bogner sich natürlich nicht zufrieden geben. Er delegierte die Aufgabe, den jungen Lenz für die SED zu werben, auf der nächsten Parteiversammlung an Waldemar Hartmann, Lenz’ direkten Vorgesetzten. Sollte er in seiner Funktion als Handelsdirektor doch mal ein bisschen Druck ausüben. Vielleicht begriff dieser Lenz dann, wohin er gehörte.
Hartmann, achtundfünfzig, zartgliedrig, kulturell interessiert und ohne Zigarette in der schmalen, kleinen Hand nicht vorstellbar, war jedoch kein Mann des Drucks. Zwar war er Ketzins Stellvertreter und damit zweiter Mann im Haus, Mitarbeiterprobleme aber löste er lieber mit zurückhaltender Freundlichkeit.
Über Hartmann wurden tausend Geschichten erzählt, alle hatten sie mit seiner Homosexualität zu tun und kommentierten die Tatsache, dass er seit kommunistischen Jugendzeiten mit einem Mann und einer Frau zusammenlebte. Was im Westen der Stadt ein paar Studenten gerade unter großem Medienecho erstmalig ausprobierten, Waldemar Hartmann, Helmut Buchholz und Ilse Prange praktizierten ihre Kommune schon seit siebenunddreißig Jahren. Buchholz, ein alter Herr im Rentenalter mit langem, schlohweißem Haar unter der keck in die Stirn geschobenen Baskenmütze, kam öfter mal vorbei, um seinen Waldemar von der Arbeit abzuholen; Ilse Prange, knapp über die sechzig, groß, breit und mit Haaren auf den Zähnen, wie es hieß, arbeitete in der vorgesetzten Dienststelle. Im Haus wurde gerätselt: War die Prange so etwas wie die Haushälterin der beiden schwulen Männer? War sie eine Lesbe, die nicht wagte, ihre Sexualität auszuleben, und ihre Freizeit deshalb diesem freundlich-friedvollen Altmänner-Paar opferte? Oder lebte sie nur ganz einfach mit ihnen in einer Wohnung?
Lenz stellte Vergleiche an: die göttliche Margot, der Kürschnermeister Otto Grün, der Elektroladenbesitzer Herrmann Holms; jenes Trio, das einst bei der Mutter verkehrte und seine Phantasie so sehr beschäftigte. Zwar war die Konstellation innerhalb der Hartmann’schen Dreierbeziehung eine ganz andere; was das eiserne Festhalten der Protagonisten an ihrem Lebensstil betraf, war die Situation jedoch eine ähnliche.
Ging der zierliche Hartmann im stets korrekt sitzenden braunen Anzug, den großen goldenen Siegelring an der linken und die Zigarette in der rechten Hand, mit seinen trippelnden Schritten über den Hof, sah Lenz ihm oft
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