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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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gewinnbringende Nacht. Er gewann in dieser Nacht einen Freund für sich, einen, der ihn fortan beobachtete und beschützte. Dieser Freund legte strenge Maßstäbe an, tadelte ihn schon mal mit »Schäm dich!«, »Feigling« oder »Arschloch!«. Sein besseres Ich war das, sein Gewissen, dieses Krokodil mit den riesengroßen, aber eben nicht nur damit knirschenden Zähnen. Oft diskutierte er wütend mit diesem beißwütigen Freund, doch wusste er, dass er fast immer Unrecht hatte.
    Nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings, so empfand es nicht nur Lenz, lag ein stickiger Mief über dem Land. Man konnte alle Fenster und Türen schließen, er drang bis in die eigene Wohnung. Übers Fernsehen, über die Presse waberte er heran. Wer ihn nicht einatmen wollte, musste das Atmen einstellen. Keine Hoffnung mehr auf irgendwas; ewige Flucht ins Westfernsehen.
    Eine Krise auch für den Schreiber Lenz. Lohnte es überhaupt noch, Papier voll zu klieren? Sollte er denn ewig nur für die Schublade protestieren? Die Schreiberei als einziges Kompensationsgeschäft? Nach dem Motto: Papier ist geduldig?
    Was er da von sich gab, war nur Hohn, ätzende Häme und blanke Schwermut. Aber blieb denn, wer immer nur ablehnte und spottete, noch er selbst?
    Welch befreiendes Gefühl, wenn sein Staat und er mal einer Meinung waren! Seinen Text gegen den Krieg in Vietnam durfte er in einer dieser modischen Singegruppen zum Vortrag bringen, mit seinem Lied über die griechische Militärjunta wurden sie sogar ins International eingeladen, einen der größten Kinosäle der Stadt. Ach, da durfte er endlich mal beweisen, dass er Talent hatte. Seine Texte über Prag, seine Pragsdorfer Inventur , die sich mit dem Soldatenalltag in der Nationalen Volksarmee beschäftigte, seine Kritik an der ihn umgebenden Wirklichkeit wanderten von einer Schublade in die andere. Das machte das Krokodil in seinem Kopf nicht lange mit; da starb die »Gruppe Berlin« genauso rasch, wie sie gegründet worden war.
    In seinen Schriften zum Theater hatte der alte Brecht bekannt, sich ein Stück über Rosa Luxemburg verkniffen zu haben, weil er sonst »in bestimmter Weise« gegen seine Partei hätte argumentieren müssen. »Aber ich werde mir doch den Fuß nicht abhacken, nur um zu beweisen, dass ich ein guter Hacker bin«, begründete er diesen Verzicht. Der junge Lenz, der nur den jungen Brecht mochte, brauchte keinerlei Rücksicht zu nehmen. Es war nicht sein Fuß, an dem er herumhackte – es war überhaupt kein Fuß, es war ein nicht benötigtes Holzbein, das jedes Vorankommen erschwerte.
    Immer schwerer fiel es ihm zu lesen, was die arrivierten Schreiber und Schreiberinnen verfassten. Oft fühlte er sich beleidigt: Entweder roch, was ihm da untergejubelt werden sollte, dermaßen nach Parteibuch, dass es ihm den Atem verschlug, oder es wurde mit viel Geschick um den heißen Brei herumgeredet. Was sollte das denn aber nutzen, dieses ewige Verschweigen oder Verniedlichen der alltäglichen Katastrophen, die geduldig ertragene und damit auch dem Leser anempfohlene Zurückhaltung, die ängstliche Anpassung! Ja, manche zeigten Schrammen auf, sahen aber keine Wunde. Und jene, die die Wunde sahen und sie zwischen den Zeilen brandmarken wollten – hofften sie, dass das Publikum klüger war als der Zensor und die unsichtbare Geheimtinte entdeckte? Und war denn, was an Anspielungen durchgelassen wurde, nicht auch Manipulation: Hier, da habt ihr mal wieder eine kesse Bemerkung gehört; seht ihr nun, wie frei ihr seid?
    Für jene älteren Autoren und Autorinnen, die vor 1945 Widerstand geleistet hatten oder in die Emigration getrieben worden waren, hatte Lenz lange Sympathie empfunden; sie hatten eine Geschichte, waren Spanienkämpfer oder KZ-Häftlinge gewesen oder hatten vom Ausland her gegen Hitler angeschrieben. Ihr Leben verdiente Respekt. Trotzdem stellte er sie jetzt immer häufiger infrage: Sahen sie denn nicht, dass ihr Traum längst vergewaltigt, zertreten und beschmutzt war? Weshalb zweifelten sie nicht endlich mal laut an der Weisheit ihrer Führer? Weil sie nicht bereit waren, sich ihre Irrtümer einzugestehen?
    Über die West-Medien hatte er erfahren, dass nach dem Krieg die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen neu eröffnet worden waren – und das nicht nur für Nazi-Verbrecher. Weshalb erzählte kein einziger DDR-Autor die Geschichte der Frauen, jungen Burschen und alten Männer, die, als Nazis oder Werwölfe denunziert, in diesen Lagern umgekommen oder

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