Krokodil im Nacken
in den Technisch-Kommerziellen Büros in aller Welt Stationierten, wenn sie zur Berichterstattung nach Hause beordert worden waren – was für Geschichten erzählten sie, wenn sie ihre kleinen Mitbringsel auspackten, wie flogen ihnen die fremden Ortsnamen und Vielfliegerbegriffe von den Lippen! Nein, das waren keine still ihre Kreise ziehenden DDR-Raupen mehr; sie hatten sich zu bunten, in die weite Welt hinausfliegenden Schmetterlingen entpuppt. Jedes Lächeln, jede Gebärde verkündete: Wir haben was gesehen, wir kennen die Welt. Wenn du brav bist, darfst du, Kollege Lenz, vielleicht auch einmal hinaus.
Lenz glaubte nicht, dass es jemals so weit kommen würde. Es fiel ihm schwer, sich in seine neue Rolle zu finden; er fühlte sich in der veränderten Umgebung nicht wohl.
Im Versorgungsdepot waren sie wie eine große Familie gewesen. Man stritt miteinander und vertrug sich wieder, knutschte auf dem Betriebsfest gern mal die Kollegin oder kotzte, wenn man betrunken war, ins Klosett und ließ die dritten Zähne mit hineinfallen. Alle Eitelkeiten blieben im Rahmen. Im Versorgungsdepot hatte man seine ruhige Art, seinen Humor und seine Kollegialität geschätzt – Attribute, die hier nicht zogen. Schillern war gefragt, locker musste man sein. Das schaffte er nur bedingt. Zwar grinste er wie alle anderen, als der Generaldirektor und die FDJ-Sekretärin dabei erwischt wurden, wie sie quer über alle Schreibtische hinweg unaufschiebbare Angelegenheiten erledigten, als aber ausgerechnet diese zugegebenermaßen sehr hübsche Schreibtischunterlage während eines FDJ-Schuljahres über sozialistische Moral und Ethik referierte, verging ihm das Grinsen. Da fühlte er sich schlicht verarscht.
Es gab viele kurz- und längerfristige Betriebsehen, fast gehörte es schon zum guten Ton, ab und zu das Bäumchen zu wechseln. Lenz hatte nichts dagegen; jedem seine Fahrt ins Glück! Was ihn störte, war das Kariert-reden-und-gestreift-Handeln und der herrschende Irrglaube, dass der Mangel an wahrer Freiheit mit einem Ich-bin-so-frei zu kaschieren sei.
Im Versorgungsdepot hatte Lenz gern gelacht. Kein Witz, den er nicht hören wollte und den er, wenn er gut war, nicht umgehend weitererzählte. Bei intermed verging ihm das Lachen. Es ekelte ihn an, wenn jene höheren Kader, die so gern Volksreden voller sozialistischem Pathos und marxistischer Frömmigkeit hielten, im angetrunkenen Zustand über die eigene Rolle und manchmal sogar über die eigene Partei Witze rissen. Wer da mitlachte, gab sich als Bruder im Geiste zu erkennen.
Und wer nicht mitlachte? Der machte sich verdächtig. Man fragte sich: Was hat der gegen uns? Was ist das für ein Sauertopf, der nur seine Arbeit machen und ansonsten mit nichts etwas zu tun haben will?
Es blieb Lenz gar nichts anderes übrig, als dem Krokodil in seinem Inneren öfter mal einen Maulkorb anzulegen und Kompromisse einzugehen. Er tat das, indem er an Brigadefeiern teilnahm, das FDJ-Schuljahr nicht schwänzte und hin und wieder auch mal die Zeitungsschau vorbereitete. War ja alles auch sehr lehrreich. Interessant wie Leute sich verhielten, wenn sie erst einmal gelernt hatten, dem eigenen Denken auszuweichen. Schließlich konnte jeder eigene Gedanke Probleme mit sich bringen, lag er nicht auf der von der Partei vorgegebenen Linie. Deshalb: Musst du etwas sagen und willst keinen Ärger bekommen, walze allseits Bekanntes und von oben Bestätigtes aus. Bist du nicht sicher, was zurzeit verlangt wird, halt die Klappe oder mach dich sachkundig. Und berufe dich möglichst auf unangreifbare Autoritäten wie Marx, Engels, Lenin oder Ulbricht. Dann weiß man, dass du ein zuverlässiger Kader bist. Glaubst du, Kritik üben zu müssen, bleibe auf deiner Ebene oder blicke nach unten. Von oben nach unten pinkeln ist einfach; wer es andersherum versucht, schifft sich selbst ins Gesicht. Im Zweifelsfall setz auf die Weisheit des Kollektivs; irrt das Kollektiv, kann dich niemand für irgendwas verantwortlich machen.
Oft juckte es das Krokodil, mal ein paar Wellen auf diesen stillen See zu zaubern. Dann fragte es laut irgendwas Despektierliches und erhielt immer dieselben Antworten: »Kollege Lenz, du diskutierst mal wieder negativ«; oder noch empörter: »Das haste wohl aus ’m Westfernsehen?«
Im Winter ’70, als es zwei, drei Wochen lang keine Kohlen gab, weil im Braunkohlentagebau bei so strengem Frost nicht gearbeitet werden konnte, saßen sie Tag für Tag in Schal und Mantel am Schreibtisch. Schnaps
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