Krokodil im Nacken
nicht; Silke stimmte es traurig, dass ihr Papi ihr nicht glaubte, er fühlte sich elend, weil er ihr nicht die Wahrheit sagen durfte.
Am Abend, nachdem die Kinder im Bett lagen, sprach er mit Hannah über den Vorfall. Im Nu war ihre Müdigkeit wie weggeblasen. Seit fast zehn Jahren lebte sie nun auf dieser Seite der Mauer, ihre Arbeit erfüllte sie, in ihrer kleinen Lenz-Familie ging sie auf. Das ganze Drumherum jedoch, dieses ewige Verleugnen der eigenen Meinung, das Flüstern und sich Umkucken, ob auch niemand Falsches zuhörte, die gesamte graue, hausbackene, ängstliche Öffentlichkeit, all das bedrückte sie. Man dürfe sich, so ihre ständigen Worte, doch nicht alles gefallen lassen. Gleich am nächsten Tag wollte sie die Lehrerin zur Rede stellen.
Lenz hatte Bedenken. »Sie wird leugnen, das jemals so gesagt zu haben. Sie wird dir ihre Version vorbeten, nämlich dass sie den Kindern nur den Sinn und Nutzen unseres antifaschistischen Schutzwalls erklärt hat. Willst du dagegen etwas sagen? Dann kannst du gleich übermorgen im Betrieb kündigen. Eine sozialistische Leiterin, die noch dazu Lehrlingsbeauftragte ist, wie darf die Zweifel an der Sicherheitspolitik unseres Staates hegen? Sie werden herausfinden, dass du weder in der FDJ noch in der Partei bist und dein Mann als FDJ-Mitglied ebenfalls nur eine Karteileiche ist, wir also beide nur äußerst unzuverlässige Kader sind.«
»Aber einer Lehrerin, die Kindern einen solchen Stuss erzählt, muss doch klar gemacht werden, wie das bei den Kindern ankommt. Wer das still schluckt, macht sich mitschuldig.«
»Sie hat den Kindern doch nur erzählt, was bei uns in jeder Zeitung steht. Willst du Silly und später auch Micha das Leben schwer machen? Als Eltern sind wir nun mal erpressbar. Ob uns das gefällt oder nicht.«
Hannah meldete sich nicht bei der Lehrerin an. – Nur ein paar Tage später hielt Silke ihr vor, dass sie im Fernsehen öfter den falschen Sandmann einschalten würde: »Der im Filzpantoffel angereist kommt, gehört nicht zu uns. Du musst den einschalten, der im Heli-o-kopter kommt.«
Hannah setzte sich hin und weinte. Solange Silke im Kindergarten war, hatten sie über die sozialistische Kindererziehung hin und wieder lachen können, jetzt ging das nicht mehr. In der Schule waren die Kinder einer Gehirnwäsche ausgesetzt, hier wurde ihnen die Partei- und Staatsführung als Kinder liebendes Vorbild und unanfechtbare Autorität in Sachen Wahrheit und Moral in die Köpfe gehämmert. Außerdem lernten sie früh, dass jeder Zweifel an der Allwissenheit der Obrigkeit schwerwiegende Folgen nach sich zog; Aufziehpuppen züchteten Marionetten heran, die bald begriffen, dass sie Nachteile hatten, wenn sie nicht willig nachplapperten, was man von ihnen hören wollte. Untertanen sollten aus ihnen werden, keine Selbstdenker. Jede Erziehung durch die Eltern war nur erwünscht, wenn sie diese Verformung auch noch unterstützten. Wer das nicht wollte, stürzte sein Kind in unlösbare Konflikte – und musste es eines Tages vielleicht sogar fürchten: Kinder, die in der Schule erzählen, was zu Hause im Fernseher läuft, warum sollen die eines Tages nicht auch darüber berichten, was ihre Eltern reden? Und war einem Kind denn begreiflich zu machen, dass es zu Hause die Wahrheit sagen, in der Schule aber lügen sollte?
Hannah und Manfred Lenz spürten, wie zwischen ihnen und ihrer Tochter eine Barriere aufgebaut wurde. Als wieder mal Wahlen waren, drängte Silke darauf, dass sie früh ins Wahllokal gingen, weil Frau Zielke gesagt hatte, dass frühes Wählengehen ganz wichtig sei. Nur so würden alle Feinde sofort erkennen, wie stark die DDR sei. Dass ihre Eltern trotzdem erst am Nachmittag einen Spaziergang zum Wahllokal machten, enttäuschte und verletzte sie. Hätten sie ihr aber sagen dürfen, dass Wahlen, ohne überhaupt irgendeine Wahl zu haben, keine Wahlen waren? Und dass ihre Eltern Nachteile befürchten mussten, falls sie es wagten, nicht zur Wahl zu gehen oder den Wahlzettel nicht einfach nur zu falten und einzuwerfen, sondern eine Wahlkabine zu betreten?
An staatlichen Feiertagen wunderten Silke und Micha sich, weshalb ihre Eltern keine Fahne aus dem Fenster hängten. Es sah doch so schön bunt aus, wenn das ganze Haus beflaggt war. Sie sagten, dass sie gerade kein Geld für eine Fahne hatten, und schämten sich ihrer Lüge.
Kleine Sorgen, die immer mehr zu großen wurden. Und das zu einer Zeit, in der es überall in Europa brodelte; wer jung
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