Krokodil im Nacken
nach Sibirien transportiert worden waren und niemals mehr wiederkehrten? Weil ein solches Buch in der DDR nicht hätte erscheinen dürfen? Ja, aber wozu schrieb man denn noch, wenn man die wichtigsten Zeitfragen ausklammern musste?
Literatur, Theater, Film, Lenz’ Stützen von Kindheit an, sie hatten ihre Kraft verloren.
Und der sozialistische Alltag, die ihn umgebende Wirklichkeit?
Es war von Tag zu Tag deutlicher zu beobachten: Je länger die Mauer stand, desto mehr Leute fanden sich mit ihr ab. Wer noch eine Flucht wagte, wurde als Hasardeur abgetan; niemand wollte mitverantwortlich sein für die Tragödien, die sich an der Grenze abspielten. Im Gegenzug begann das Politbüro sich mit dem Volk abzufinden. Wenn nur Ruhe und Ordnung herrschten und alle fleißig mitarbeiteten am Aufbau des Sozialismus, war es zweitrangig, ob Loyalitätsbekundungen nur Lippenbekenntnisse waren oder aufrichtiger Begeisterung entsprangen. Nur wer aufsteigen oder sich an die Öffentlichkeit wenden wollte, war verpflichtet, etwas seriöser zu heucheln.
Bei Kafka las Lenz: »Was ist das für ein Volk! Denken sie auch – oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?« Eine Frage, die ihn sehr erschreckte, deren zeitlose Berechtigung er aber bald begriff. Nach dem letzten großen Krieg, da hatte das Volk eine Zeit lang »gedacht«; es war ihm wieder ausgetrieben worden, indem man ihm vorgaukelte, nun sei es an der Macht. Es erkannte den Trick und lachte darüber, »denken« aber wollte es nicht mehr. Weil echtem Denken etwas folgen musste. Doch was? Und unter welchem Risiko?
Das Krokodil in Lenz riet ihm, an seinem Leben etwas zu ändern; weil er keine andere Möglichkeit sah, tat er das Einzige, was ihm blieb: Er suchte eine neue, interessantere Aufgabe, bewarb sich beim Außenhandel, gleiche Fachrichtung, und wurde eingestellt.
Es war Anfang Mai 1969, fünf Monate bevor die DDR ihren zwanzigsten Jahrestag feierte und überall in den Straßen Plakate klebten mit frischen jungen Menschen drauf und der Überschrift Ich bin zwanzig . Manfred Lenz, nur sechs Jahre älter, fühlte sich oft wie sechsundvierzig.
Der Wechsel erfolgte noch während des Fernstudiums. Zwei Jahre hatte er hinter sich, zwei noch vor sich. Nun war er nicht mehr für die Bezirke OstBerlin und Frankfurt/Oder zuständig, jetzt hieß sein Tätigkeitsgebiet Asien, Nordamerika, Skandinavien, Bundesrepublik Deutschland, WestBerlin. Ein Vertrauensposten; alle Mitarbeiter in der Abteilung »Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet« bekleideten Vertrauensposten.
Dass er kein Englisch sprach – kein Problem! Ein halbes Jahr lang zweimal die Woche zwei Stunden Volkshochschule – außerhalb der Arbeitszeit und neben dem Fernstudium – und er sang: »There was ’n old Lady, she swallowed a fly – I don’t no why, she swallowed a fly. Perhaps she ’ll die …«
9. Schmetterlinge
D as Außenhandelsunternehmen intermed lag direkt an der Spree; ein großes, imposant wirkendes, kastenförmiges Bürogebäude schräg gegenüber der Jannowitzbrücke. Drehte Lenz sich auf seinem Stuhl zum Fenster herum, war der Fluss ganz nah. An sonnigen Tagen glitzerte er, als wollte er ihm voll Übermut zuzwinkern, an trüben Tagen quälte er sich nur unlustig dahin; oft trug er Schleppkähne auf seinem Rücken.
Es freute Lenz, dass er die Spree wiederhatte. Auf der Insel hatte er ihre jahreszeitlich bedingten Launen kennen gelernt, bei Richard Diek ihr Talent für Tragikomödien. Im Kabelwerk hatte er Zukunftspläne in sie hineingeträumt; nie vergessen würde er jene sternenklare Silvesternacht, als Eddie und er im Kanu über sie hinwegglitten, als wäre sie der Orinoco und sie zwei von ihrer Jugend berauschte Indios. Jetzt hatte er oft das Gefühl, ihren Beistand zu benötigen.
Er trug nun Anzug und Krawatte und Einstecktuch, der frisch gebackene Exportkaufmann Lenz, und selbstverständlich rauchte er Pfeife. Im Außenhandel wurde Pfeife geraucht; das gehörte sich so für Welthandelsmänner. Aber natürlich rauchte man hier kein billiges Kraut. Da gab es ja diesen angenehm süßlich duftenden holländischen Tabak, den man im Delikat-Laden Unter den Linden auch für Ostmark bekam; der, egal wie teuer, musste es mindestens sein.
Korrespondenz mit Madras und Chikago, Stockholm und Oslo, Hamburg, München und Berlin-Charlottenburg, im Empfangsraum Herren und Damen aller Herren und Damen Länder. Dazu die Dienstreisenden, die aus Bagdad, Rio de Janeiro oder Paris heimkehrten, oder die
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