Krokodil im Nacken
war, wollte sich viel eher diesem hoffnungsvollen Aufbruch anschließen, als sich mit solch dumm-verbohrtem Alltagskram zu beschäftigen.
Im Fernsehen konnten Hannah und Lenz es mitverfolgen: In Paris bauten Studenten Barrikaden, besetzten Theater, organisierten Streiks und zwangen einen Staatspräsidenten zum Rücktritt. In WestBerlin, Frankfurt am Main, Hamburg und Tübingen besetzten sie Hörsäle, legten den Verkehr lahm und blockierten Zeitungshäuser. Der Westen war in Bewegung geraten, überlieferte Werte wurden infrage gestellt, von vielem die Patina entfernt, von anderem der Staub fortgepustet.
Aber auch im Osten, in der schönen, alten Stadt Prag tat sich was. Ein Sozialismus mit »menschlichem Antlitz« sollte geschaffen werden. Im Westfernsehen sprach man voller Hoffnung vom »Prager Frühling«; im Osten wusste man: Frühling bedeutet aufweichen. Und so gelangten die Prager Knospen nicht zur Blüte, sondern eine neue Eiszeit setzte ein: Bruderpanzer fuhren durch die Stadt an der Moldau, jede Protestbewegung wurde erstickt.
Die Ereignisse im Westen interessierten Hannah und Manfred Lenz, für die in Prag fühlten sie sich mitverantwortlich. Zu den Bruderpanzern gehörten ja auch ostdeutsche. Zwar waren die vor der Grenze stehen geblieben, wohl weil man die Weltöffentlichkeit nicht zu Vergleichen mit den Aktionen der Deutschen Wehrmacht herausfordern wollte, ihre Stoßrichtung aber war eindeutig.
Wie hatte Leutnant Wittkowski gesagt – nie würden Sozialisten in andere Länder einfallen?
Am 17. Juni 1953, als die Panzer durch Berlin fuhren, war Lenz zehn Jahre alt, jetzt war er fünfundzwanzig. Fünfzehn Jahre waren vergangen und noch immer regierten die Panzer, wollten die Machthaber in Moskau, Warschau, Budapest und OstBerlin ihre Art von Sozialismus mit Gewalt retten und begriffen nicht, dass Einschüchterung auf Dauer noch nie funktioniert hatte. Sie redeten sich ein, ihren Sozialismus notfalls auch auf Menschenopfern errichten zu können.
Sag mir, wo du stehst, lautete eine Parole der Zeit; Lenz wusste längst, dass er falsch stand. Schreibend reagierte er seinen Zorn ab, höhnte er voll Verachtung, klagte er lauthals an. War ja so leicht, jedes Argument für diesen blutigen Einsatz gegen mehr Demokratie und Menschlichkeit zu zerbröseln. Sonst tat er nichts. Oder doch, auch er tat etwas: Während andere junge Leute den Namen des tschechoslowakischen Staatsmannes und Hoffnungsträgers Dubcõek an die Hauswände pinselten, Plakate klebten gegen diese Art von Bruderhilfe oder Flugblätter in Briefkästen warfen und dafür Exmatrikulation, Verhaftung und Gefängnisstrafe riskierten, verlas der Abteilungsleiter Lenz vor seinen Mitarbeitern eine die Lage erklärende Rede des Zentralkomitees der SED. Es war ihm aufgetragen worden, er parierte. Und die verheuchelten Worte, die so leicht zu durchschauen waren, die Lügen, die er mithalf zu verbreiten, würgten ihm danach noch tagelang im Hals. Er litt unter diesem Funktionieren und versuchte es mit Selbstbeschwichtigung: Was hätte er denn anderes tun sollen? Hätte er sich weigern sollen, diesen Mist weiterzuverbreiten? Hätte er den Text sabotieren sollen, indem er absichtlich stotterte, sich verhaspelte, sich verlas oder falsch betonte?
Er redete sich gut zu, dass doch fast jeder an seiner Stelle das Gleiche getan hätte, doch die Selbsthypnose funktionierte nicht. Immer wieder musste er an H.H.M. denken, Hannahs Vater, der ja auch nur getan hatte, was von ihm verlangt wurde, und sich mit ähnlichen Worten getröstet hatte. – Nein, wenn er ehrlich zu sich sein wollte, musste er zugeben: Er hatte sich vor sich selbst blamiert, hatte eine böse Niederlage erlitten. In ihre Partei bekamen sie ihn nicht, den aufrechten Manfred Lenz, dafür aber verlas er ihre Lügen! Zwar nur zähneknirschend, aber mit guter Betonung.
Oder durfte er sich dieses Mit-den-Zähnen-Knirschen, das keiner hören konnte, etwa als mildernden Umstand anrechnen? Auf diese Weise könnte er ja ein ganzes Leben lang verlogene Reden verlesen, wenn er dabei nur immer hübsch mit den Zähnen knirschte.
Wer nicht lebt, wie er denkt, wird irgendwann denken, wie er lebt; ein Kalenderspruch, den er sich auf der Insel eine Zeit lang an die Wand gepinnt hatte. Und nun? War er schon auf dem Weg dahin, zu denken, wie er lebte? War der mutige Schubladenschreiber Lenz in Wahrheit eine Lusche, ein Feigling, einer, mit dem man alles machen konnte?
Es folgte eine schlaflose, aber
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