Krokodil im Nacken
sollte vielleicht diesbezüglich mal mit ihm reden.
Sie redeten mit Lenz, und er wiederholte all die Ausflüchte, die ihm noch vom Versorgungsdepot her in Erinnerung waren; einen Waldemar Hartmann allerdings fand er hier nicht.
Man war enttäuscht. Alles nur billige Ausreden. Lenz sollte doch mal darüber nachdenken, welche Chance sich ihm hier eröffnete; spätere Reisetätigkeit in den von ihm bearbeiteten Ländern nicht ausgeschlossen.
Der berühmte Wink mit dem Zuckerstück, ein kleiner Pakt mit dem Teufel Partei. Reisen, mal herauskommen aus dem schönsten und interessantesten Land der Welt, wer wollte das nicht? Lenz jedoch blieb stur. Er war in der FDJ, in der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft und in der Gewerkschaft, das musste reichen. Partei und Kampfgruppe, so hießen die selbst gezogenen Grenzen, die er nicht überschreiten wollte. Ein Parteieintritt hätte eine Art Selbstmord bedeutet, Kampfgruppe war ihm zu sehr Soldatenspielerei, das hatte er hinter sich. Wenn er sie nur sah, die zumeist schon bäuchigen Männer in ihren Blaumännern mit der roten Binde am Arm, wie sie im Hof strammstanden, bevor es mit Karabinern und Handwaffen zum monatlichen Indianerspiel hinausging, grauste es ihm schon. Keiner von denen hatte Lust auf diese Strapazen, dennoch hoppelten sie durchs Grün. Nur um ihrer Karriere nicht zu schaden.
Die Weltmänner und Pfeifenraucher, die Lenz zu dem berühmten letzten Schritt bekehren wollten, gehörten zu jenen Leuten, die alles mitmachten, deshalb aber noch lange keine Scheuklappen vor den Augen hatten. Sie versuchten nicht, Lenz mit Parteiparolen zu agitieren, winkten nur mit den Vorteilen, die sich ihm eröffneten, falls er sein störrisches Verhalten endlich aufgab. So redete, wer die Verhältnisse nicht als ideal ansah, aber erbarmungslos entschlossen war, das Beste für sich daraus zu machen. Es ging nicht in ihre Köpfe, dass Lenz bei diesem Spiel nicht mitmachen wollte, und so redeten sie und redeten, und Lenz eierte herum, bis andere Aufgaben sie riefen und sie so bald keine Lust auf ein neues Gespräch verspürten. Die Zeit verging und irgendwann wurde Lenz doch zum Brigadier berufen. Zum »kommissarischen«. Der Appetit kommt beim Essen, dachten sich seine Förderer wohl; wer wollte denn ewig mit dem Anhängsel »kommissarisch« und unangepasstem Gehalt herumlaufen?
Das nicht angepasste Gehalt ärgerte Lenz, die Einschränkung »kommissarisch« störte ihn nur wenig. Sie beruhigte sogar: Siehst du, so ist es, wenn man nicht bei allem mitmacht; du wirst nicht erschossen, musst nur ein paar Nachteile in Kauf nehmen. Mit Schwung stürzte er sich in die Arbeit – und eines Tages passierte es dann: Die erste Dienstreise stand an. Nach Indonesien. Langjährige Schuldner waren ins Gebet zu nehmen, brieflich angebahnte, äußerst erfolgversprechende Kontakte galt es zu vertiefen. Mehr als Test – Lenz glaubte nicht im Traum daran, dass ihm die Reise genehmigt würde – beantragte er über die Reisestelle einen Pass. Das war der jeweils erste Schritt: Ohne Pass keine Reise; und wer besaß schon einen Pass, solange er nicht Reisekader war? Er ließ Passfotos machen, schrieb einen Lebenslauf und füllte mehrere Fragebögen aus. Darunter einen besonders umfangreichen, in dem er vollzählig alle seine Verwandten anzugeben hatte, auch die bereits verstorbenen, vor allem aber jene, die im Westen lebten. Falls diese Westler irgendwann aus der DDR weggegangen waren, war hinzuzufügen, wann, wie und wo sie ausgereist waren. Er beantwortete alle Fragen gewissenhaft, weil er überzeugt davon war, dass jedes Verschweigen zwecklos war, und siehe da, Tante Grit und Onkel Karl, von denen er, nachdem der Briefverkehr schon bald nach dem Mauerbau eingeschlafen war, nichts mehr gehört hatte, plötzlich waren sie wieder von Bedeutung. Auf Hannahs Verwandtschaft traf das ebenfalls zu, doch dabei handelte es sich ja nicht um Republikflüchtlinge.
Mit der Beantragung des Passes begann die Sicherheitsüberprüfung:
Was ist dieser Reisekandidat Lenz für ein Mensch? Hat er wahrheitsgetreue Angaben gemacht? Wie ist sein Gesamtverhalten zu beurteilen, wie steht es um seine Bindung an die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR? Schätzt er die soziale Sicherheit, die unser Staat ihm bietet? Hat er Kontakte zu politisch negativ aufgefallenen Personen? Wird er feindlichen Beeinflussungsversuchen widerstehen? Wie ist es um die Bindung zu seiner Familie, zu Verwandten und Freunden bestellt?
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