Krokodil im Nacken
sie die Asche ins Meer oder in einen der zum Meer führenden Flüsse streuten … Die ausgebeuteten Seidenweber von Turichirapalli, die unzähligen, imposanten Tempelbauten, der endlose Strand vor Madras … Wer hätte Lenz nicht um diese Reise beneidet? Dennoch war er nicht glücklich. Er fühlte sich unwohl als Delegationsmitglied. Ein paar Mal hatte er sich abgeseilt, um allein durch die Straßen zu wandern; das war gerügt worden. Der Leiter der Delegation, einer der Kontordirektoren, ein kleiner, schmaler Mann mit hohem Haarwuchs und sommersprossigem Gesicht, verwies auf seine Verantwortung für sie alle. Lenz erwiderte, er sei volljährig, könne allein auf sich aufpassen, und durch welche Straßen er spaziere, sei seine Sache. Einer der beiden anderen nahm ihn beiseite. Er solle kein dummes Zeug reden, sonst sei dies ganz sicher seine letzte Dienstreise gewesen.
Ihm wurde übel von dieser Art Disziplin, und auf dem Heimflug, als er vom Flugzeug aus die märkischen Seen, die Sandhügel und den Kiefernwald um Berlin sah, verspürte er zum ersten Mal nicht nur Vorfreude auf Hannah und die Kinder: Es ging zurück in den Horst, und zeigte er sich nicht dressiert genug, würden sie ihn nie wieder ausfliegen lassen. Was bedeutete das anderes als »Ab jetzt bist du erpressbar«?
Bei intermed dachte man offensichtlich ähnlich: Jetzt ist er auf den Geschmack gekommen, der Lenz, jetzt wird er sich mit weniger nicht mehr zufrieden geben; es gibt keinen besseren Treue-Kitt als Reisen ins westliche Ausland.
Lenz sah seinen Vorgesetzten diese Hoffnung an und holte sich fortan immer öfter etwas Erfrischendes aus der Kantine. Dieses »Erfrischende« bestand aus einer Cola mit Weinbrand. In der Cola fiel der Weinbrand nicht auf, tat aber seine Wirkung; vor allem, wenn es darum ging, zu beweisen, dass ein Manfred Lenz nicht erpressbar war.
Seine Förderer verstanden ihre sozialistische Welt nicht mehr: Dieser Lenz hatte sein Studium abgeschlossen, war kommissarischer Brigadier und NSW-Reisekader, was wollte er mehr? Es ging ihnen nicht in die Köpfe: Da machte einer Reisen, die für neunundneunzig Prozent der DDR-Bürger unerfüllbare Träume blieben, lebte mit seiner Familie in einer leicht bezahlbaren, modern eingerichteten Drei-Zimmer-Neubauwohnung und hatte, da noch so jung, die allerschönsten Zukunftsaussichten und war dennoch nicht zufrieden? Was fehlte ihm denn noch?
Was Lenz fehlte, konnte ihm keiner geben; das würde er sich eines Tages selbst nehmen müssen. Noch aber war er nicht so weit, sich diese Konsequenz einzugestehen. Unglücklich über seine Rolle, verhielt er sich wie ein bockiges Kind: Wenn ihr denkt, ihr könnt mich erziehen, indem ihr mir Bonbons zu lutschen gebt, nur um sie mir bei Ungehorsam wieder zu entziehen, habt ihr euch geschnitten. Ich brauche eure Süßigkeiten nicht. Und so zerrte er an der Leine, an der sie ihn führen wollten, bis ihn der Parteisekretär des Hauses eines Tages im Flur ansprach: »Sag mal, Kollege Lenz, ich hab den Eindruck, die Reiserei ins Ausland bekommt dir nicht. Ist vielleicht besser, du machst da mal ’ne längere Pause.«
Damit war es heraus. Deutlicher ging es nicht. Noch am selben Tag schrieb Lenz seine Kündigung und Hannah erlebte einen so fröhlichen Manne wie schon lange nicht mehr: Der Schuldeneintreiber Lenz hatte endlich auch sich selbst die überfällige Rechnung präsentiert.
Seine Förderer wollten es nicht glauben und versuchten, ihn zu halten. Unter anderem mit einer fest zugesagten Gehaltserhöhung.
Lenz ließ sich nicht erweichen und trat eine Stelle beim VEB Haushaltselektrik an; eine Firma, die sich um die Versorgung der Bevölkerung mit Haushaltsgeräten zu kümmern hatte. Das Reparaturwesen klappte nicht, Lenz und andere sollten eine bessere Service-Organisation aufbauen.
Die erste Dienstreise führte ins immer noch kriegszerstörte Dresden, die zweite in die geschichtsträchtige, aber leider dem Verfall preisgegebene Erfurter Altstadt. Freunde sagten: »Du Idiot!« Sah Lenz Flugzeuge am Himmel, neigte er dazu, ihnen Recht zu geben: Er hatte sich selbst die Flügel gestutzt. Saß er jedoch an den Abenden an seinem Schreib-Tisch, klopfte ihm das endlich freundlich gestimmte Krokodil auf die Schulter: Gut gemacht! Zwar sind die Schmetterlingsflügel nun weg, aber dafür hast du Knochen bewiesen. Das ist kein schlechtes Geschäft.
10. Winnetou
E in Freitagnachmittag im April. Hannah kam an diesem Tag später – irgendwelche wichtigen
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