Krokodil im Nacken
einziges Mal dachte Lenz daran, wie einfach er auf diese Weise die Seiten wechseln könnte; nicht einmal, wenn Hannah, Silke und Micha bei ihm gewesen wären, hätte er zu jener Zeit einen solchen Schritt in Erwägung gezogen.
Der Botschafter, der gern mit Lenz Tischtennis spielte, gab ihm einen Tipp: »Kaufen Sie Ihrer Frau einen schweren goldenen Ring. Wer weiß, vielleicht braucht sie später mal Zahngold. So billig wie hier kriegen Sie das nirgends.«
Lenz befolgte den Rat, feilschte in einem riesigen, von all dem Gold ringsumher nur so blitzenden und glitzernden Schmuckbasar eine halbe Stunde lang mit einem chinesischen Händler und war anschließend sicher, doch übers Ohr gehauen worden zu sein. Einen solchen Klunker aber hatte Hannah noch nie besessen; der war tatsächlich nur Zahngold, den würde sie nie tragen.
Auf der Rückreise: noch einmal Singapur. Die große Hafenrundfahrt!
Da wurden längst vergessene Kindheitsträume wach: Schiffsjunge werden, die weite Welt sehen!
Gruber: »Als Exportkaufmann kannst du das doch auch, musst nur immer schön artig sein.«
Wieder in Berlin verabschiedete sich Gruber, der froh war, alles heil überstanden zu haben, bewegt von Lenz: »Werd’ ich nie vergessen, diese Reise! Wer weiß denn, ob sie uns noch mal rauslassen.«
Der erfolgreiche Schuldeneintreiber Lenz musste nicht lange warten, bis er wieder rausdurfte. Nur ein halbes Jahr später war er Mitglied einer vierköpfigen Delegation, die nach Indien reiste. Zwei Tage Zwischenstation in Kairo, danach Bombay, Delhi, Agra, Madras, Coimbatur, Turichirapalli und noch einige andere Orte. Gespräche mit Vertreterfirmen standen auf der Terminliste, Besuche von Universitäten und Krankenhäusern, die mit von intermed gelieferten Geräten arbeiteten, und natürlich auch hier das Präsentieren von unbezahlten Rechnungen.
Wieder sechs Wochen, wieder ein Traum, der wahr wurde; noch unsäglicher die Armut, die Lenz diesmal zu Gesicht bekam. Vier Reisende aber waren mindestens zwei zu viel, das merkte er bald. Jeder von ihnen hatte nach Abschluss der Reise schriftlich Bericht zu erstatten, jeder auch besondere Vorkommnisse zu melden. Mit Gruber hatte Lenz sich abgestimmt. Sie hatten beide keinerlei besondere Vorkommnisse erlebt, waren nirgendwo schief angesehen oder diskriminierend behandelt worden, nur weil sie aus der DDR kamen, und hatten auch über den jeweils anderen nichts Negatives vermerkt. Zu viert konnten sie sich nicht abstimmen, zu viert liefen sie wie siamesische Vierlinge durch die Gegend, und jeder wusste: Erwähne ich etwas nicht, was die anderen drei berichten, gelte ich als unzuverlässig. Außerdem: Wer sagt mir denn, dass unter uns keine »Sicherheitsnadel« ist, ein Stasi-Zuträger? Also: Bedenke, was du sagst; bedenke, was du tust; bedenke, was du in deinen Reisebericht schreibst!
In einem Bombayer Restaurant: Der einsame Herr am Tisch neben ihnen hatte mitbekommen, dass sie auf Deutsch die Speisekarte durchnahmen. »Ich würd’ Ihne de Lobschter Thermidore empfehle. Der isch ganz köschtlich.«
Der Herr kam offenbar aus Schwaben und hätte gern ein bisschen mit seinen Landsleuten geplaudert. Wie verdutzt kuckte er, als sie sich zu viert zu ihm umwandten, höflich nickten und sich sofort wieder in die Speisekarten vertieften. Lenz’ zaghafter Protest gegen diese Wand, von der er Teil sein musste: Er bestellte sich den Hummer, und als sie gingen, nickte er dem noch immer ganz indigniert blickenden Schwaben freundlich zu: »Vielen Dank für die Empfehlung, war wirklich ganz frisch, der Hummer.« In Wahrheit hatte er keine Ahnung, ob er ein frisches Schalentier gegessen hatte oder nicht; es war der erste Hummer seines Lebens, und hätte er gewusst, welche Mühe die Scherenknackerei bereitete, hätte er ihn nicht bestellt.
Später fragte er sich, ob sie genauso bekloppt reagiert hätten, wenn ein Franzose oder Engländer sie angesprochen hätte, und natürlich auch, ob einer der anderen drei diesen »Westkontakt« in seinem Reisebericht erwähnen würde. Sollte er nachfragen? Er tat es nicht, ein ungutes Gefühl aber blieb.
Der viel befahrene Marine Drive in Bombay, die Überfahrt zur Höhleninsel Elephanta, der Junge mit dem rabenschwarz glänzenden Haar, der am Strand Betelnüsse verkaufte und ihn dabei so freundlich anstrahlte! Der Tadsch Mahal, zwar nicht wie empfohlen im Mondenschein, aber doch in strahlender Sonne glitzernd … Die Plätze, auf denen die Inder ihre Toten verbrannten, bevor
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