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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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haben?
    Nein, nein, nein! Was für ein verrückter, riskanter Plan! Sie beteuerten sich gegenseitig, dass sie Fränzes Angebot nicht annehmen durften, und trösteten sich mit ihrer schönen Gemeinsamkeit. Sollte doch da draußen alles in Heuchelei und Fahnenschwenken versinken, sie hatten sich, waren immer eine glückliche Familie gewesen, wollten es bleiben. Ein Prozent Risiko war schon zu viel.
    In der nächsten Nacht gelangten sie zu ganz anderen Ergebnissen: Sie waren ja noch nicht mal dreißig, wie lange wollten sie dieses erdrückende Leben denn noch ertragen? Wie lange war es möglich, sich immer wieder selbst aus dem Weg zu gehen? Hannahs Depressionen, sollte sie denn eines Tages in der Klapsmühle landen? Und er, Lenz, mit seiner Schreiberei? Wollte er für alle Zeit Schubladenartist bleiben? Was, wenn einmal einer seiner Texte gefunden wurde? Dann landete er auf jeden Fall im Knast. Oder sollte er sich sein Leben lang auf die Zunge beißen?
    Es gab Menschen, die gingen an ihrer Waghalsigkeit zu Grunde, andere an übertriebener Vorsicht. Zu welcher Kategorie zählten sie?
    Aber die Kinder!
    Gerade wegen der Kinder mussten sie fort! Auf Dauer würde ihre schöne Gemeinsamkeit ja keinen Bestand haben; ihr Unglück würde auf Silly und Micha abfärben. Gab ja bereits Anzeichen dafür, dass Silke sich von ihnen allein gelassen fühlte. Erst vor wenigen Tagen hatte sie in der Schule wieder so einen Brief verfassen müssen: Freiheit für Angela Davis! Seither weinte sie jedes Mal, wenn sie ein Foto von der schwarzen Frau mit dem Afrolook und der erhobenen Faust auf der Titelseite einer Zeitung oder im Fernsehen sah. Eine Kämpferin für das Gute sei diese Frau, antwortete sie ihnen, wenn sie versuchten, sie zu trösten. Böse Menschen hätten sie eingesperrt und würden vielleicht noch viel mehr Leute einsperren, wenn niemand dagegen protestierte. Sie wussten nicht, was sie darauf antworten sollten. Im Westfernsehen hieß es, die Davis sei eine linksradikale Bürgerrechtlerin. Das war ihr gutes Recht, zog man die Rassendiskriminierung in den USA in Betracht. Sie sollte aber auch wegen Mordes und Kidnapping sitzen. Was war die Wahrheit? Keine Ahnung! Durften denn aber Kinder dazu angehalten werden, Briefe zu schreiben in einer Sache, die nicht einmal Erwachsene durchschauten? Durfte ihnen auf eine solch makabre Weise Angst gemacht werden? Was würden ihnen ihre Lehrer da später noch alles erzählen?
    Hannah: »Unser Leben ist nur oberflächlich glücklich. Wir machen es uns schön, aber wir leben nicht wirklich!«
    Lenz: »Ob du mit einem weichen Kissen erstickt wirst oder dir jemand die Gurgel abdrückt, das Resultat ist dasselbe.«
    Nein, sie wollten diese Form von Sicherheitsverwahrung nicht länger ertragen. Sie mussten raus aus diesem Toten Meer, in dem sich nichts, aber auch gar nichts bewegte. Sollten die aktiven und passiven Helden dieses Staates, die sich so gern selber feierten, weiterhin ihren Schrebergarten für den größten und schönsten der Welt halten, Hannah und Manfred Lenz wollten nicht länger stören. Vielleicht gab es ja ein Recht auf Gleichgültigkeit – wer sich von allem unberührt fühlt, lebt gesünder und länger –, sie aber wollten kein gleichgültiges Leben führen, stellten andere Ansprüche. Und wer andere Ansprüche stellte, musste der sich diesen Ansprüchen nicht stellen?
    Auch in den Nächten darauf: endlose Gespräche. Das Ergebnis: mal so, mal so. In Wahrheit aber ging es immer um dasselbe: Was ist, wenn? Wie hoch war das Risiko? Gab es gar keines, wie Franziska behauptete? Waren sie nur zu ängstlich?
    Sie mussten erkennen, dass ihnen alles Gegrübel nicht half, und litten unter ihrer Entscheidungslosigkeit. Hätte Fränze ihnen doch nur nie diese Frage gestellt! Was ging es eine Westlerin an, wie sie lebten? Oft hatten sie das Gefühl, wie im Fieberwahn zu leben und überhaupt nicht mehr klar denken zu können. Und so zögerten sie Sillys Schnupfen immer weiter hinaus, bis Lenz eines Abends nach Hause kam und Hannah ihm am Gesicht ansah, dass es keinen Weg zurück mehr gab.
    Zuvor hatte Lenz oft an all jene gedacht, die ebenfalls geflüchtet waren – an die Familien aus dem Haus Raumerstraße Nr. 24, mit deren Kindern er als Junge so oft gespielt hatte, an die ehemaligen Eichhörnchen aus der Königsheide, von denen einige vor dem Mauerbau und andere danach noch in den Westen verschwunden waren, an die Freunde von der Insel, die Kollegen aus der

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