Krokodil im Nacken
Gewissenhafteste. Ein einziges Mal führte Lenz ein längeres Gespräch mit ihm, das war, als er ihm von seiner Ausbildung in Leipzig und seiner berühmten narkosefreien Schädeltrepanation erzählte. Hausmann musste lachen, berichtete ein wenig von seiner Arbeit und verriet Lenz seinen Fluchtgrund: Sein Chef, eine international bekannte Koryphäe auf dem Gebiet der Gefäßchirurgie, war während einer Pariser Konferenz im Westen geblieben. Er wollte zu ihm, um weiter von ihm zu lernen.
Hausmanns Strafmaß: drei Jahre, zehn Monate. Sein Rechtsanwalt: Dr. Vogel. Doch hoffte Hausmann nicht auf eine baldige Freilassung; Ärzte, so sagte er, müssten ihre Zeit absitzen. Es verschwänden zu viele von ihnen; man wolle nicht, dass sie schon ein paar Monate nach ihrer Festnahme ihren östlichen Kollegen Kartengrüße aus der Südsee schickten.
Franz Moll war so etwas wie das Kind in der 218. Ein großer, blonder, knapp neunzehnjähriger Malergeselle aus Erfurt, der über die thüringisch-bayerische Grenze robben wollte. Fluchtgrund: Er wollte möglichst rasch einen Porsche fahren, träumte noch immer davon, sich den nach seiner Ausreise bald leisten zu können. »Wenn ich ganz sparsam bin, vielleicht schon in zwei, drei Jahren.«
Sein Strafmaß: zwei Jahre, vier Monate. Seine Rechtsanwälte: erst ein Dr. Krause, jetzt Dr. Vogel.
Jochen Wiegand war von Beruf Elektroingenieur. Ein mittelgroßer schlanker Mann mit intelligentem, ebenmäßigem Gesicht; zugereister Berliner. Seine Frau, sein Sohn und er hatten in der gleichen Maschine wie Hausmann gesessen. Außer dieser Tatsache jedoch verband die beiden nichts; viel eher schien diese zufällige Gemeinsamkeit sie unangenehm zu berühren.
Wiegands Frau war Hals-Nasen-Ohren-Ärztin; eine Tatsache, die auch Wiegand an einer vorzeitigen Ausreise zweifeln ließ. »Die lassen mich nicht laufen, solange nicht auch meine Frau ausreisen darf.«
Wiegands Sohn lebte seither bei der Oma. Einen bestimmten Grund für Wiegands Fluchtversuch gab es nicht – er wusste tausend Gründe aufzuzählen: »Hab diesen Staat einfach nicht mehr ausgehalten. Hab immer Ärger gehabt, hätte weiter Ärger gehabt.«
Jochen und Marlies Wiegands Strafmaß: drei Jahre, zehn Monate. Ihr Rechtsanwalt: Dr. Vogel.
Wiegand und Lenz hatten viele Gemeinsamkeiten. Beide wussten sie ihre Frauen in Hohenschönhausen, Wiegand vermisste seinen Sohn und Lenz seine Kinder sehr, beide hatten sie – Wiegand lange nach Lenz – mal in der Raumerstraße gewohnt. So entstand mit der Zeit eine gewisse Vertrautheit, die sich, als sie eines Nachmittags Post von ihren Frauen erhielten, noch vertiefen sollte, denn jede der beiden Frauen schrieb von einer Zellennachbarin, mit der sie sich sehr gut verstand. Dabei benutzten beide Frauen zum Teil dieselben Worte. Es lag auf der Hand: Marlies Wiegand und Hannah Lenz teilten miteinander eine Zelle und wollten herausfinden, ob ihre Männer, von denen sie inzwischen wussten, dass sie in Cottbus gelandet waren, sich ebenfalls kannten. Lenz und Wiegand antworteten in derselben Weise und konnten den nächsten Briefen ihrer Frauen entnehmen, dass sie richtig vermutet hatten.
Nicht erfreulich war, was Wiegand über die Hohenschönhausener Strafhaft zu erzählen wusste. Über irgendeine Quelle, die er nicht verraten wollte, hatte er herausgebracht, dass im Hohenschönhausener Strafvollzug viele schwer kriminelle Frauen einsaßen, die zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen verurteilt waren und den politischen Häftlingen das Leben zur Hölle machten. Eine Neuigkeit, die Lenz mehrere schlaflose Nächte bereitete. – Und er hatte gehofft, Hannah könnte es besser ergehen! Nun hatte wahrscheinlich sogar er den besseren Teil erwischt. In Cottbus saßen ja nur Kurzstrafler ein, bis zu fünf Jahren Haftzeit; einziger Krimineller auf der 218: Roman Brandt.
Brandt sprach noch immer nicht über seine Tat, den Gerüchten nach aber hatte er ein siebenjähriges Mädchen befummelt oder sich von ihm befriedigen lassen, war also ein Kifi – Kinderficker –, wie es im Knastjargon hieß. Weshalb er von allen geschnitten wurde, obwohl die Strafvollzugsbeamten ihn zum Brigadier im Erziehungsbereich IV gemacht hatten. Auch hier in Cottbus galt: Kriminelle, die nicht auf eine Ausreise in den Westen hoffen durften, funktionierten am besten.
Brandts Rechtsanwalt? Irgendein Pflichtverteidiger, er erwähnte den Namen nie. Seine Strafe: zwei Jahre, sechs Monate.
Die 218 war eng: zwei Dreistockbetten, ein
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