Krokodil im Nacken
Waschbecken, ein abgeteiltes Klo. Keine Möglichkeit, einander auszuweichen. Nur nachts war Lenz für ein paar Stunden mit sich allein. Dann lag er in dem obersten Bett neben dem Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus.
Ein warmer Frühsommer, sie konnten das Fenster offen lassen. Bei Mondschein warfen die Gitterstäbe lange Schatten. Ganz in der Nähe musste sich eine dicht befahrene Straße befinden. Immer wieder waren Autos zu hören, die vorüberrauschten, einmal dröhnte eine Hupe laut durch die Nacht, ein andermal vernahm Lenz lautes Frauenlachen.
Nie zuvor war er in Cottbus gewesen, er konnte sich die Stadt nicht vorstellen. Was waren das hier für Straßen? Alles nur Neubauten wie die, die von manchen Fenstern aus zu sehen waren? Oder gab es eine schöne alte Innenstadt? Und was dachten die Cottbuser über dieses Gefängnis? Wussten sie, dass hier zu sechzig, siebzig Prozent Politische einsaßen? In Weimar hatte man nach dem Krieg behauptet, von dem, was in Buchenwald vor sich gegangen war, nichts gewusst zu haben; als die Amerikaner einige Weimarer zwangen, sich das Lager anzusehen, sollen ein paar Frauen in Ohnmacht gefallen sein. Der Cottbuser Knast war kein KZ, aber interessierte es die Cottbuser, Brandenburger, Bautzener, was für Menschen in ihren Gefängnissen saßen?
Hatte Lenz das Gefühl, dass alle anderen schliefen, stand er manchmal auf und stellte sich ans Fenster. In einem seiner Gedichte hatte Heinrich Heine die Sterne »Totenlampen« genannt; ihm erschienen sie eher als Sehnsuchtslampen. Er malte sich aus, wie in solch lauen Nächten die Leute draußen ihren Vergnügungen nachgingen, in Biergärten saßen, falls es in Cottbus welche gab, oder bei weit offenem Fenster vor dem Fernseher ihr Bier oder ihren Wein tranken. Er sah Paare durch Stadtparks schlendern – und die Sehnsucht nach Hannah schmerzte immer heftiger. Er stellte sich vor, wie Silke und Micha in ihren fremden Betten lagen – und er musste die Zähne zusammenbeißen.
Wenn er nicht am Fenster stand, bekam er manchmal mit, wie Brandt oder Moll onanierten. Eine widerliche Situation, die nur schwer auszuhalten war.
Und zu allem anderen dieser ewige Zweifel: Was, wenn Hannah und er die volle Zeit oder zwei Drittel davon absitzen mussten? War es dann nicht besser, sich endlich damit abzufinden, anstatt sich in Hoffnung auf eine vorzeitige Entlassung Tag für Tag verrückt zu machen?
Einziger Trost: die Gewissheit, dass diese Zeit ja auch ein Gewinn sein konnte. Hatte er zuvor denn gewusst, wie kostbar ein Waldspaziergang war? Wenn sie mit den Kindern zum Baden nach Grünau hinausgefahren waren, hatten Hannah und er da auch nur im Entferntesten geahnt, dass sie an einem Luxusvergnügen teilhatten?
Gearbeitet wurde innerhalb der Gefängnismauern, in einem Zweigwerk des VEB Pentacon , dem laut Werbung weltweit bekannten Dresdener Hersteller von optischen Geräten und Fotoapparaten. Kameragehäuse wurden hier gestanzt, die notwendigen Ösen und Löcher hineingebohrt und die gusseisernen Rohlinge mit der Feile entgratet. Einfache Arbeiten, stumpfsinnige Arbeiten.
In Lenz’ ersten Cottbuser Wochen wurde der Erziehungsbereich IV in der Entgraterei eingesetzt. Morgen für Morgen marschierten sie in Reihen zu jeweils drei Gliedern über das Knastgelände; neben ihnen her wieselte Roman Brandt, der kontrollierte, ob sie auch wirklich marschierten und nicht etwa latschten. Hinter hohen Drahtzäunen sprangen scharfe Hunde heran, kläfften und fletschten die Zähne. Nachts liefen diese Tölen rundherum um die Strafvollzugsanstalt; wer ausbrechen wollte, musste zuerst ihnen entkommen und danach die vier Meter hohe Gefängnismauer überwinden.
Jede Arbeitsschicht dauerte acht Stunden. Acht Stunden Feilen aber war kein Vergnügen; keiner, der am Anfang nicht Blasen an den Händen hatte. Und die Norm war hoch; mehr als zwanzig Mark im Monat, die dem Einkaufskonto gutgeschrieben wurden, waren nicht zu erreichen. Wollte einer die verdienen, musste er hundertsechzig Prozent schaffen. Zu einer solchen Schufterei aber waren nur einige Kriminelle bereit; für die meisten politischen Häftlinge galt bereits die Normerfüllung als Verbrechen an sich selbst.
Die Zivilmeister, die die Gefangenen anleiteten, kamen leichter auf ihr Geld, erhielten sie doch zum üblichen Lohn noch Gefahrenzulage.
Anfangs versuchten Dettmers und einige andere politische Häftlinge, die Arbeit ganz und gar zu verweigern. Sie setzten sich auf die ihnen zugewiesenen
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