Krokodil im Nacken
in den Osten entlassen worden waren und nur in einem Braunkohlentagebau Arbeit gefunden hätten. Oder er rechnete Lenz vor, wie teuer diese Freikäufe für die Bundesrepublik waren. »Und das, wo die da drüben jetzt so viele Sorgen mit ihrer hohen Arbeitslosigkeit haben. Wie sollen die sich so viel ›Humanität‹ auf Dauer denn leisten können? Und was sollen sie überhaupt mit euch? Kommen ja nur noch mehr Arbeitslose.«
Manchmal hätte Lenz Cierpinski am liebsten mit einem Tritt in den Hintern aus seiner Bude befördert.
Es kamen aber auch sympathischere Kriminelle zu Lenz und erzählten ihm ihre Geschichte. Von schlimmen Jugendjahren, prügelnden Vätern und ausgebeuteten Müttern erfuhr er. Ihre Delikte hingegen waren nicht sehr interessant; immer nur Diebstahl von Volkseigentum, kleine Einbrüche und Gewalttätigkeiten.
Meistens jedoch bekam Lenz Fluchtgeschichten zu hören, Fluchtgeschichten über Fluchtgeschichten. Ein Stralsunder hatte in einem plombierten Kühlwaggon in den Westen gewollt und sich trotz aller wärmenden Decken eine Lungenentzündung geholt. Ein Bauer aus der Hallenser Gegend hatte mit einem gekaperten Düngemittelflugzeug die Grenze überfliegen wollen; nur hundert Meter davor war ihm der Sprit ausgegangen. Ein junger Handwerker aus Mecklenburg war an der grünen Grenze angeschossen worden und zeigte jedem sein »Loch« im Bauch. Ein junger OstBerliner hatte ein WestBerliner Ehepaar dazu überredet, ihn im Kofferraum ihres Autos über die Grenze zu schmuggeln; nun saßen sie alle drei, und der junge OstBerliner wollte gar nicht mehr in den Westen, weil er und seine »Fluchthelfer« zum Zeitpunkt der Tat nicht mehr ganz nüchtern gewesen waren und er »in Wahrheit« doch seine schöne Wohnung nicht im Stich lassen wollte. Drei unternehmungslustige Thüringer Rauschebärte waren mit einer langen Leiter von Ungarn aus bis ins Grenzgebiet nach Österreich vorgedrungen. Dort wollten sie die Leiter über die Grenzanlagen legen und von Strebe zu Strebe, über alle eventuellen Minen und Selbstschussanlagen hinweg, in die Freiheit kriechen, waren aber leider den ungarischen Häschern direkt in die Arme gekrabbelt.
Tragödien, Komödien und Tragikomödien; Lenz hörte sich alles an, war entsetzt, schüttelte den Kopf oder lachte. Wirklich reden aber konnte er nur mit denjenigen seiner »Kunden«, die es fertig brachten, trotz des Unrechts, das ihnen angetan worden war, nicht zu verbittern. So manch ein ansonsten eher friedlich gesinnter Kopf war aus Hass gegen die »Kommunisten« ganz und gar zum Rechtsaußen geworden und sann auf Rache. Rachegefühle jedoch erschienen Lenz genauso unsinnig wie Reuegedanken.
Ständig schwirrten neue Gerüchte durch die Zellen und Arbeitsräume. Jede noch so geringe Kleinigkeit innerhalb des Gefängnislebens wurde aufmerksam registriert, von allen Seiten abgeklopft und am Ende, im Hinblick auf ihre Situation, möglichst positiv ausgelegt.
Anfang Mai hieß es, wenn die Bundesrepublik erst den Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten unterzeichnet habe, würden die Transporte losgehen. So lange werde man sie als Faustpfand zurückbehalten. Als der Bundestag den Vertrag nach vielen Diskussionen endlich gebilligt hatte, brach Jubel aus: Die letzten Steine waren aus dem Weg geräumt. Das Neue Deutschland , das kurz und knapp über die westdeutschen Debatten und die Unterzeichnung des Vertrages mit all seinen Zusatzprotokollen berichtete, ging wie eine Reliquie von Hand zu Hand.
Wenige Tage später: große Enttäuschung! Die Bayern hatten das Bundesverfassungsgericht angerufen, um den Vertrag doch noch zum Kippen zu bringen. Karrandasch, der nach München wollte, verkündete lauthals, trotz seines christlichen Hintergrunds niemals in seinem westlichen Leben CSU wählen zu wollen; wäre eine Umfrage nach dem unbeliebtesten bundesdeutschen Politiker veranstaltet worden, Franz Josef Strauß hätte gesiegt. Und das mit haushohem Vorsprung.
Dann war eines Tages im ND ein großes Foto abgedruckt: Herbert Wehner zu Besuch bei Erich Honecker. Einhellige Meinung: »Der Wehner bewegt was. Der kennt den Honecker doch noch von früher. Fangen wir mal langsam an zu packen.«
Kurz darauf stand im ND , das Bundesverfassungsgericht wolle am 31. Juli über die bayerische Verfassungsklage entscheiden. Wut kam auf: Das waren ja noch ganze zwei Monate! Wie sollten da die Ausreisen vor Mitte August losgehen?
Ende Juli begannen in OstBerlin die X. Weltfestspiele der
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