Krokodil im Nacken
sie mussten sich mit gespreizten Beinen gegen eine Wand fallen lassen und wurden von oben bis unten abgetastet. Wehrte man sich gegen solch einen Überfall oder sagte man etwas Falsches, wurde erbarmungslos niedergeknüppelt; über »Dichter« wurde zum Glück nur gespottet.
Wollte er dennoch »schreiben«, blieb nur eine Möglichkeit: Er musste seine Texte auswendig lernen und sie sich immer wieder aufsagen, um sie bis zum Tag seiner Entlassung nicht zu vergessen. Eine Methode, die nur wenige seiner Hervorbringungen überstanden. Das meiste erschien ihm irgendwann abgelutscht und er verwarf es.
Das ND wurde von den Häftlingen nur gelesen, weil sie über das politische Klima zwischen den beiden deutschen Staaten informiert sein wollten. Hing ja viel für sie davon ab. Lenz hielt es nicht anders, stieß aber zweimal auf Nachrichten, die in der 218 allein ihn betrafen und erschütterten.
Es handelte sich um einen Gerichtsbericht und eine Todesanzeige.
In dem Gerichtsbericht ging es um den vierundsechzigjährigen Moritz B. aus Fürstenwalde, einen »Menschen aus der Welt von gestern«. Maßlose Bereicherungssucht habe dem B. eine achtjährige Freiheitsstrafe eingetragen, verbunden mit einer hohen Geldstrafe und dem Verbot jeder weiteren selbstständigen Tätigkeit. Außerdem sei der zweifache Millionär zu Schadensersatzleistung und Beschlagnahmung aller seiner Unternehmergewinne verurteilt worden.
Moritz B., so stand im ND , habe sein immenses Vermögen vor allem durch betrügerische Handlungen zum Nachteil des Staates erlangt. Infolge umfangreicher Steuerhinterziehungen und anderer Finanzmanipulationen sei ein volkswirtschaftlicher Schaden von mindestens siebenhunderttausend Mark entstanden. Außerdem habe B. durch überzogene Preise und nicht korrekt gelieferte Ware mehrere seiner Handelspartner um weitere hunderttausende Mark geprellt. Sein ergaunerter Besitz: eine große Villa, drei Autos, jede Menge Bargeld in den verschiedensten Währungen, zahlreicher kostbarer Schmuck und wertvolle Antiquitäten. Die mit angeklagte Tochter, Buchhalterin in B.s Firma, habe ihre Mittäterschaft gestanden und sei zu viereinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden.
Lenz bedauerte Breuning. Acht Jahre waren eine lange Zeit, besonders für einen alten Mann, und viereinhalb bis fünf davon würde er mindestens absitzen müssen. Und wenn er dann wieder draußen war, war er ein armer Mann. Der Staat nahm ihm alles, rächte sich an dem Kapitalisten, der ihn betrogen hatte. Dass dieser Staat selbst es war, der solch Fürstenwalder Fürsten erst den richtigen Nährboden bereitete, wer wollte das wissen, wer durfte das sagen?
Die Todesanzeige hatte das Versorgungsdepot für Pharmazie und Medizintechnik aufgegeben: Waldemar Hartmann war tot. Gestorben im Alter von zweiundsechzig Jahren. Hartmanns Verdienste als Mitarbeiter der ersten Stunde wurden gewürdigt, nie werde man ihn vergessen, wurde beteuert, ein Vorbild an Einsatz und Pflichterfüllung sei er gewesen.
Lenz hatte in den letzten Jahren nur noch selten an den zierlichen Mann im ewig braunen Anzug gedacht, der so ganz und gar seine eigene Meinung hatte, ihn aber nie ganz vergessen können. Ihre Unterhaltung über seinen Nicht-Eintritt in die Partei – fast war er sich sicher, dass Hartmann auch für seine jetzige Situation Verständnis aufgebracht hätte. Es gab aber noch ein anderes Gespräch, das er mit Hartmann geführt hatte; dachte er daran zurück, hatte er ein schlechtes Gewissen.
Es war während eines Betriebsausflugs nach Bad Saarow. Zusammen mit Hartmann hatte er am Tisch gesessen, und dort, in fröhlicher Runde, hatte der damals Achtundfünfzigjährige verkündet, dass er ab sofort nicht mehr rauchen werde. Ob sich das in seinem Alter denn überhaupt noch lohne, hatte der eifrige Raucher Lenz da lachend gefragt und das natürlich scherzhaft gemeint. Hartmann jedoch war über diese Taktlosigkeit sehr betroffen gewesen: »Sie meinen wohl, ich sollte mich langsam darum kümmern, wer meine Grabpflege übernimmt?«
Nein, nein, hatte er sich entschuldigt, er habe doch nur sagen wollen, dass er, Lenz, darauf hoffe, ab einem gewissen Alter das Leben in vollen Nikotinzügen genießen zu dürfen. Sozusagen ohne ewig ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Schließlich riskiere man, je älter man werde, ja immer weniger.
Dasselbe in Grün. Er hatte es gewusst und sich geschämt. Hartmann aber fand noch entschuldigende Worte für seine jugendliche Arroganz: »Wer
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