Krokodil im Nacken
Jugend und Studenten. Der »Sommer der Lebensfreude«, wie es im ND hieß. Fotos bewiesen, was für ein freundliches, fröhliches Land voller glücklicher Menschen die DDR war. Kam da wer auf die Idee, nach politischen Gefangenen zu fragen?
Am 31. Juli lehnte das Bundesverfassungsgericht die Klage des Landes Bayern gegen den Grundlagenvertrag ab. Erneuter Jubel: »Jetzt geht’s los! Alles nur noch eine Frage von Tagen.«
Zwei Tage später überraschte sie die klein gedruckte Nachricht von Ulbrichts Tod. Sofort machte eine neue hauptamtliche Entlassungsparole die Runde: »Es gibt ’ne Amnestie. Ganz klar. Als Pieck starb, gab es ja auch eine.«
Als ein paar Tage später in der Effektenkammer nachts das Licht brannte, hieß es: »Sortieren die womöglich schon unsere Klamotten?«
Es war schwer auszuhalten, dieses ewige Warten, Hoffen und Bangen. Lenz versuchte, sich nicht verrückt machen zu lassen, nur von Tag zu Tag zu denken und stets am jeweils nächsten Tag irgendetwas Angenehmes zu finden: Freu dich auf den wöchentlichen Einkauf, auf die wöchentliche Buchausleihe, die wöchentliche Dusche, die monatliche Filmvorführung; Hauptsache, du hast hin und wieder ein gutes Gefühl! Auch lernte er, sich an die von den Strafgefangenen selbst aufgestellten Regeln zu halten, um nicht zum Außenseiter zu werden. Also: Bist du Essenkalfaktor, rühre die Suppe gut um, sonst bleibt das Dicke unten und die »Betrogenen«, die nur dünne Plärre bekommen, halten das für Absicht. Wird ein »Hofkonzert« veranstaltet und die Gefangenen johlen und schlagen mit ihrem Besteck gegen die Gitter, gib ihnen nicht zu verstehen, dass du diese Proteste für unnütze Kraftmeiereien hältst. Im Gegenteil, zeige deinen Mitgefangenen immer wieder, dass du dazugehörst, beweise ihnen deine Freundschaft und hin und wieder auch deine Komplizenschaft. Gib aber Acht, dass du dich nicht zu sehr anpasst, biedere dich nicht bei jedem Idioten an, nur um nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Der Knast deformiert; willst du dich davor schützen, musst du dir Respekt verschaffen.
Abwechslungen in diesem Warte-Einerlei gab es nur wenige. Da waren die täglichen Mahlzeiten: morgens Brot und Marmelade, mittags eine dünne Brühe wie die berühmte »Fußlappensuppe« (Weißkohleintopf) oder »tote Oma« (Blutwurst mit Sauerkraut und Kartoffeln), abends eine Leberwurst-Abart auf klitschigem, Bauchweh und Blähungen verursachendem Kastenbrot, angereichert mit »BBB«, einer Margarine zum »Braten, Backen und Bohnern«. Da war neben den Büchern der wöchentliche Fernsehabend – eine einzige Propagandashow, an der Lenz nie teilnahm –, und da waren die sonntäglichen Gottesdienste beider Konfessionen, die ihn ebenfalls nicht interessierten. Um sich die Freizeit auf andere Weise zu verkürzen, fabrizierten sie auf der 218 Würfel- und Kartenspiele, die natürlich verboten, aber durch pfiffige Verstecke ein paar Tage lang zu retten waren. Die Würfel formten sie aus Brot, mit Zahnpasta tupften sie Punkte drauf und dann spielten sie Chikago . Auch ein Mensch-ärgere-dich-nicht- Spiel aus Pappe und verschieden geformten Brotfiguren half ihnen über so manches Wochenende hinweg. Und knoteten sie mehrere Strümpfe zu einem Knäuel zusammen, hatten sie sogar einen Fußball.
Auf Dettmers Zelle vertrieb man sich die Zeit damit, aus Brot, Wasser, Marmelade und Zucker »Wein« anzusetzen, Kujampe genannt; ein Zeug, von dem die, die es probiert hatten, behaupteten, dass man Gesichtslähmung davon bekomme. Wieder woanders wurden aus Langeweile die verrücktesten Wetten abgeschlosen, wie zum Beispiel die, für eine Packung Tabak »tote Oma« aus dem »Leo« – der Kloschüssel – zu essen. Zwar hatte der Wetthai den »Leo« zuvor mit der »Lissy« – der Klobürste – und Scheuerpulver gereinigt, er erntete für seine Heldentat aber dennoch keinen Beifall, nur eben den teuer erworbenen Tabak.
Interessantester Zeitvertreib jedoch war und blieb die Kommunikation von Zelle zu Zelle. Dafür gab es mehrere Möglichkeiten. Ein alter Knasttrick war, mit dem Becher das Wasser aus dem »Leo« zu schöpfen, bis die Verbindungsrohre frei waren. Geschah das in einer der Nachbarzellen ebenfalls, konnte man durch diese Rohrleitungen miteinander »telefonieren«. Ein mühseliges Unterfangen, das in Cottbus kaum noch praktiziert wurde. Wozu hatte man denn normal große und in normaler Höhe angebrachte Fenster? Wer Lust zum Quatschen hatte, nahm den Spiegel vom
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