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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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keine dreißig ist, für den sind alle über fünfzig alt.«
    Und nun? Das naseweise Bürschchen hatte Recht behalten. Es hatte sich für Hartmann nicht mehr gelohnt, auf seine geliebten Stäbchen zu verzichten.
    Zwei Nachrichten, die Schuldgefühle in Lenz auslösten: Er hatte Breuning nicht gemocht und ihn das öfter spüren lassen; er hatte den ihm doch so sympathischen Hartmann verletzt, als der gerade voller Optimismus in eine neue Lebensphase aufbrechen wollte. War es nicht seltsam, dass er in seiner jetzigen Situation – in der er von so vielem, was draußen geschah, abgeschnitten war – von beider Schicksal erfuhr?

4. Nicht Buchenwald
    L enz hatte sich fest vorgenommen, sich von den Strafvollzugsbeamten nicht provozieren zu lassen, Anfang August aber verlor er doch einmal die Beherrschung.
    Es war ein sonniger Sonntagvormittag. Mit einem Brief von Silke in der Hand lag er auf dem Bett, und auf dem Hof tobte Berija herum – Berija, der schwarzhaarige, glatt gescheitelte, junge Unterleutnant mit der randlosen Brille und dem hervorspringenden Kinn, der seinen Spitznamen Stalins 1953 erschossenem, für die Säuberungen der dreißiger Jahre mitverantwortlichem Geheimdienst-, Polizei- und Sicherheitschef verdankte; Berija, der den Kriminellen mit viel Verständnis für ihren Ausrutscher entgegenkam und alle politischen Gefangenen als Verräter an der großen, guten Sache verabscheute. An diesem Vormittag ließ er mal wieder eine Gruppe von Gefangenen strafexerzieren. Unentwegt hallten seine Kommandos über den Gefängnishof.
    Es gab Schließer, die nie schlugen, es gab solche wie Petrograd oder Panzerplatte, die gern einmal zuschlugen, es gab nur einen, der wegen jeder Kleinigkeit schlug: Berija. Mal mit dem Schlüssel, mal mit dem Knüppel, mal mit der blanken Faust. Auch betätigte er sich gern als »Durchknaller«, indem er sich mit einem Kollegen vor die Zellentür schlich, um sie im Schnellaufschluss zu öffnen – damit den Gefangenen keinerlei Gelegenheit blieb, rasch noch irgendwas Verbotenes oder Gebasteltes verschwinden zu lassen.
    Das Verfahren war einfach, einer der beiden Schließer stieß den Schlüssel ins Schloss, während der andere schon die Riegel zurückriss. Die Gefangenen hörten nur einen Schlag – und Berija stand in der Zelle.
    An diesem Sonntagvormittag trieb Berija die Gefangenen, die seinen Unwillen erregt hatten, mal im Entengang im Hof herum – sie mussten in die Hocke gehen und sich dennoch vorwärts bewegen –, mal ließ er sie »Häschen hüpf« machen. Dazu mussten sie ebenfalls in die Hocke gehen, die Arme vorstrecken und vorwärts hüpfen. Zur Entspannung gab’s Kniebeugen.
    Lenz wollte sich auf Silkes Brief konzentrieren, vom Hof her aber tönte unentwegt Berijas Stimme durchs offene Fenster: »Wenn Sie denken, Sie können mich hochnehmen, befinden Sie sich auf dem Holzweg. Wenn ich will, dürfen Sie sich bis Mitternacht auf diese Weise amüsieren. – Sie da! Hüpfen, nicht kriechen! – Mit solch verrotteten Menschen müsste man eigentlich noch ganz anders verfahren. – Eigentlich gehören Sie allesamt in den Arrest. – Sie da, Arsch hoch, verdammt noch mal!«
    War es Silkes Brief – eindeutig nur diktierte Sätze –, der Lenz so frustrierte, dass er sich abreagieren musste? War es Berijas schrille Stimme, die er nicht länger ertragen konnte? Es kam so plötzlich über ihn, dass er später selbst nicht wusste, was ihn zu diesem Ausraster bewegt hatte. Mit einem Mal sprang er auf, stürzte ans Fenster und überschrie den Unterleutnant: »Halt endlich deine verdammte Schnauze, Berija!«
    Zwei, drei Sekunden lang war es still im Hof, dann heulte Berija auf: »Ich krieg Sie, Sie Schwein!! Ich weiß, in welcher Zelle Sie stecken.«
    Das Strafexerzieren war abgesagt, die durch Lenz erlösten Gefangenen durften in ihre Zelle einrücken. Minuten später stand Berija in der Tür zur 218, Triumph im Gesicht.
    Roman Brandt erstattete Meldung; alle anderen waren ebenfalls aufgestanden, hatten mehr oder weniger Haltung angenommen und blickten Berija an, als wären sie gerade erst aus einem Nickerchen erwacht.
    »Naa? Freiwillige vor! Wer hat mich beschimpft? Oder glauben Sie etwa, ich wüsste nicht, wer Berija war?«
    Er hätte es nicht wissen dürfen, Stalins Heldentaten und die seiner Helfershelfer und Schachfiguren wurden seit Jahren totgeschwiegen. Hatte Berija sich von sich aus schlau gemacht? Etwa über die Feindmedien? Vielleicht, nachdem er erfahren hatte, wie sein

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