Krokodil im Nacken
anstellte und dafür von seinen beiden großen Brüdern gehänselt wurde, doch sehr.
Dass Robert und Wolfgang nur seine Halbbrüder waren, weil sie zwar dieselbe Mutter, nicht aber denselben Vater hatten, war Manni früh erzählt worden. Es hatte ihm nie viel ausgemacht. Seine großen Brüder waren seine großen Brüder. Erst später, als Wolfie schon nicht mehr lebte und Robert früh geheiratet hatte und ausgezogen war und der sieben-, acht-, neunjährige Manni lernte, Stimmungen wahrzunehmen und kritische Blicke zu deuten, erfasste ihn manchmal das Gefühl, in Wahrheit schon immer unwillkommen gewesen zu sein. Das galt nicht für die Mutter, die ihm, weil sie so wenig Zeit für ihn hatte, immer wieder Geld zusteckte, damit er ins Kino gehen oder sich etwas Schönes kaufen konnte, und die ihn auch sonst eher verwöhnte; und das galt nicht für Tante Lucie, die viel zu fromm und gutmütig war, um einem Kind irgendetwas vorzuwerfen. Doch es galt für fast alle anderen Verwandten und Bekannten und besonders für Onkel Karl und Tante Grit, die Robert und Wolfgangs Vater so gemocht hatten und nicht verstehen konnten, weshalb die Lisa sich diesen »Dollbregen Lenz« zugelegt hatte, nachdem sie mit dem sanften, lustigen, wenn auch leider viel zu schwachen Georg doch so glücklich gewesen war. Und dann hatte sie von diesem Lenz auch noch ein Kind bekommen. Mitten im Krieg! Das hatte doch nun wirklich nicht sein müssen!
Die Mutter hatte nicht viel Zeit zum Erzählen und Fotos gab es vom Vater nur zwei. Auf beiden stand der Maurer Lenz vor irgendeinem halb fertigen Bau, einmal in Arbeitskleidung, mit weit hoch gekrempelten Hemdsärmeln, einmal in Jacke und gebügelter Hose, aber jedes Mal mit einer Flasche Bier in der Hand. Ein sympathischer Mann? Manni wusste es nicht. Der Mann, der sein Vater sein sollte, grinste in die Kamera wie seine Kollegen auch. Dafür, dass er sein Vater war, sprachen allein die große, kräftige Figur und die Arme. Auch Manni war groß und kräftig für sein Alter und sie hatten tatsächlich sehr ähnlich geformte Arme.
Erst viel später, als all die unbeantworteten Fragen ihn in Unruhe versetzten und die Mutter, die ihm als Einzige hätte Auskunft geben können, nicht mehr lebte, versuchte er, über Robert und Tante Grit mehr über seinen Vater zu erfahren. Doch das Bild blieb unvollständig. Da war die Geschichte von dem sechzehnjährigen Dienstmädchen Martha, das im Jahre 1907 von ihren schlesischen Eltern nach Berlin geschickt worden war, um dort in Stellung zu gehen. Prompt wurde die gute Katholikin schwanger – vom Herrn des Hauses, Sohn des Hauses oder irgendeinem Gast des Hauses – und gab den kleinen Herbert ins katholische Waisenhaus. Dort, in dem großen, grauen Haus mit den vielen traurig dreinblickenden Kindern, wie Manni sich dieses Waisenhaus vorstellte, wuchs der Vater auf. Sicher wurde er oft geschlagen, sicher weinte er viel. Endlich erwachsen und Maurer geworden, zog der Junggeselle Lenz von einer Schlummermutter zur anderen, bis er, mit dreißig, die verwitwete Kneipenbesitzerin Lisa John kennen lernte, die zwei Kinder durchzubringen hatte. Vielleicht hatte die Mutter Mitleid mit dem »Waisenjungen«, vielleicht liebte sie ihn wirklich; so genau wusste das nicht einmal Tante Grit.
Von den traurigen Liedern, die sein Vater so gemocht haben soll, hatte die Mutter Manni mal eines vorgesungen. »Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen«, begann dieses Lied von einem kleinen Jungen, der seine Mutter um ein Pferdchen bittet und alle möglichen Ersatzpferde geschenkt bekommt. »Mamatschi, solche Pferdchen mag ich nicht«, lautete der Refrain. Eines Tages aber stehen richtige Pferde vor dem Haus – die Pferde des Leichenwagens, der die Mutter abholen kommt: »Mamatschi, solche Pferdchen mag ich nicht …«
Ein unsäglich kitschiges Lied, das der Vater sicher nur deshalb so liebte, weil er nie eine wirkliche Mutter hatte; Manni mochte es, weil es was mit seinem Vater zu tun hatte.
Jene »böse Oma« namens Martha, die seinen Vater im Waisenhaus abgegeben hatte, lernte Manni nie kennen, obwohl sie ihn immer wieder mal sehen wollte. Dann schlich »die Alte« um den Ersten Ehestandsschoppen und versuchte, ihn auf der Straße zu erwischen. Die Mutter jedoch war auf der Hut, zog ihren Jüngsten jedes Mal schnell in die Gaststätte und ließ ihn erst wieder laufen, wenn die Schwiegermutter nicht mehr zu sehen war. Sie nahm dieser Martha übel, dass sie sich nie um ihren Sohn gekümmert
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